300 Jahre Münchhausen
Die Wahrheit über den Lügenbaron

Die Bibel gebietet, man soll nicht lügen. Und trotzdem sagt jeder Mensch täglich 200-mal die Unwahrheit. Weshalb? Warum lässt man sich gerne anschwindeln? Und wieso flunkert sogar die Kirche? Die Wahrheit über die Lüge.
Publiziert: 09.05.2020 um 13:21 Uhr
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Aktualisiert: 09.11.2023 um 10:44 Uhr
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Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen kommt am 11. Mai 1720 in Bodenwerder südlich von Hannover (D) zur Welt.
Foto: Getty Images
Daniel Arnet

Wann immer der ehemalige US-Präsident Donald Trump (77) im Morast feststeckt, packt er seinen Blondschopf und zieht sich mit der Kraft des eigenen Armes aus dem Sumpf. Diese Erfolgsstory verbreitet er jeweils über Twitter, heute X.

Gelogen? Aber ja doch! Diese Anekdote stammt nicht vom Lügenpräsidenten, sondern vom Lügenbaron. Als solcher ist Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720–1797) in die Geschichts- und Geschichtenbücher eingegangen. Am 11. Mai 1720 ist er in Bodenwerder südlich von Hannover (D) auf die Welt gekommen.

Fakten zu Münchhausen

Kindheit: Am 11. Mai 1720 kommt Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen in Bodenwerder (D) an der Weser als fünftes Kind seiner Eltern zur Welt.

Krieg: 1737 geht Hieronymus als Page nach Sankt Petersburg und zieht ein Jahr später mit Prinz Anton Ulrich von Braunschweig in den Russisch-Türkischen Krieg.

Kinderlos: Am 2. Februar 1744 heiratet Münchhausen Jakobine von Dunten, Tochter eines Landrichters aus dem Baltikum. Mit ihr lebt er 46 Jahre lang zusammen, die Ehe bleibt kinderlos.

Kriegserinnerung: 1750 quittiert er den Militärdienst, lebt als Gutsherr in Bodenwerder. Bei Tabak und Punsch erzählt er gern raffiniert ausgeschmückte Erlebnisse aus Kriegstagen.

Ehekrieg: Nach dem Tod seiner Frau heiratet er 1794 sein Patenkind Bernhardine von Brunn. Bald kommts zum Scheidungskrieg, in dessen Folge ihn ihr Anwalt erstmals als «Lügenbaron» betitelt. Verbittert stirbt Münchhausen 1797.

Kindheit: Am 11. Mai 1720 kommt Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen in Bodenwerder (D) an der Weser als fünftes Kind seiner Eltern zur Welt.

Krieg: 1737 geht Hieronymus als Page nach Sankt Petersburg und zieht ein Jahr später mit Prinz Anton Ulrich von Braunschweig in den Russisch-Türkischen Krieg.

Kinderlos: Am 2. Februar 1744 heiratet Münchhausen Jakobine von Dunten, Tochter eines Landrichters aus dem Baltikum. Mit ihr lebt er 46 Jahre lang zusammen, die Ehe bleibt kinderlos.

Kriegserinnerung: 1750 quittiert er den Militärdienst, lebt als Gutsherr in Bodenwerder. Bei Tabak und Punsch erzählt er gern raffiniert ausgeschmückte Erlebnisse aus Kriegstagen.

Ehekrieg: Nach dem Tod seiner Frau heiratet er 1794 sein Patenkind Bernhardine von Brunn. Bald kommts zum Scheidungskrieg, in dessen Folge ihn ihr Anwalt erstmals als «Lügenbaron» betitelt. Verbittert stirbt Münchhausen 1797.

Baron Münchhausen machte die Lüge salonfähig. «Am liebsten erzählte er seine völlig übertriebenen Geschichten nämlich, wenn er merkte, dass bei Tisch vornehmlich die jungen Herren prahlten», sagt Otto Freiherr von Blomberg (70) gegenüber Anna von Münchhausen (70). «Dann kam er so ganz gelassen zwischen zwei Kartoffeln heraus mit der Bemerkung: ‹Das ist ja noch gar nichts. Als ich einmal …›»

Anna von Münchhausen, Journalistin und Nachgeborene des Lügenbarons, hat zum 300. Geburtstag im Jahr 2020 ein Buch über ihren «phantastischen Vorfahren» veröffentlicht. Dafür hat sie mit vielen Verwandten gesprochen, unter anderen mit Otto Freiherr von Blomberg. Und der sagte ihr, Baron Münchhausen habe die Lügner am Tisch blossstellen wollen: «Es hat in der Tat etwas Tragisches, dass gerade er dann als Lügner in die Literaturgeschichte eingegangen ist.»

Münchhausen schrieb seine Geschichten nie auf

Sein Ritt auf der Kanonenkugel, sein Aufstieg zum Mond an einer Bohnenranke oder – wie eingangs erwähnt – seine Befreiung aus dem Sumpf durch Ziehen am eigenen Haarschopf: All diese Münchhausiaden erzählt der Landadlige, der in jungen Jahren kurz an der Seite der Russen gegen die Türken und Schweden in den Krieg zieht, aber sonst ruhig in Bodenwerder lebt – doch er schreibt sie nie nieder. Dafür macht sich der eine oder andere Zuhörer Notizen.

Und so erscheint 1781 in Berlin ein «Vademecum für lustige Leute» mit 16 Erzählungen, die einem gewissen «Herrn von M-h-s-n» zugeschrieben sind. Diese Geschichten übersetzt der nach London geflüchtete Hannoveraner Rudolf Erich Raspe (1736–1794) ins Englische und veröffentlicht sie 1785 unter dem Titel «Baron Munchhausen's Narrative of his Marvellous Travels and Campaigns in Russia» – ein Bestseller! Der deutsche Dichter Gottfried August Bürger (1747–1794) erkennt das Potenzial, übersetzt Raspe zurück ins Deutsche und veröffentlicht das Buch 1786.

Fortan ist der Lügenbaron auch im deutschsprachigen Raum berühmt-berüchtigt. Doch warum dieser Erfolg des Lügens, das gemäss Wörterbuch «die bewusst falsche Aussage zur Täuschung anderer» ist? Schon das achte Gebot der Bibel fordert doch: «Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.» Und der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533–1592) schreibt klipp und klar: «In Wahrheit ist das Lügen ein verfluchtes Laster.»

Bis heute hat Donald Trump über 18'000-mal gelogen

Die Antwort ist schäbig und schlicht: Lügen adelt – nicht erst Baron Münchhausen – und macht mächtig. So sichern sich die bibeltreuen Päpste im 8. Jahrhundert die Vorherrschaft über Rom, indem sie bis ins 19. Jahrhundert behaupten, die Stadt sei eine Schenkung von Kaiser Konstantin dem Grossen (272–337) gewesen, weil er von der Lepra genesen sei – eine schlichte Lüge.

Die russische Kaiserin Katharina die Grosse (1729–1796) lässt sich 1787 von Fürst Grigori Alexandrowitsch Potemkin (1739–1791) per Schiff die annektierte Halbinsel Krim zeigen und will sich einen Eindruck von seiner Arbeit verschaffen. Um Erfolg vorzutäuschen, lässt der Fürst am Ufer angebliche Prunkbauten in Form von Holzkulissen erstellen, die sogenannten Potemkinschen Dörfer – eine schäbige Lüge.

Und der ehemalige US-Präsident Donald Trump hielt sich mit Lügen wacker an der Macht. Gemäss einer Analyse der «Washington Post» hat er in seiner Amtszeit (2017–2021) über 30'000 Mal gelogen, etwa 21 Lügen pro Tag, die er gerne auch über den damals noch Twitter genannten Kanal X absetzte. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit lügte er aber bestimmt weit mehr.

Denn gemäss einer Studie des Österreichers Peter Stiegnitz (1936–2017), Soziologe und Begründer der Wissenschaft des Lügens (Mentiologie), sagt jeder Mensch täglich durchschnittlich 200-mal die Unwahrheit – Männer 20 Prozent häufiger als Frauen. Stiegnitz erforschte auch, weshalb Menschen lügen: 41 Prozent wollen sich mit der Unwahrheit Ärger ersparen, 14 Prozent möchten sich so das Leben leichter machen, 8 Prozent Liebe erheischen und 6 Prozent in besserem Licht erscheinen. Die restlichen 31 Prozent lassen die Frage offen.

Manche lügen, damit sie ehrlicher erscheinen

Neuere Studien der Hebrew University of Jerusalem kommen zum Schluss, dass Menschen sogar lügen, damit sie ehrlicher erscheinen. In einem Test geht es um ein Online-Spiel, das bei der Hälfte der Teilnehmer manipuliert ist, sodass sie immer die Maximalpunktzahl erreicht. Ein Viertel der vermeintlichen Glückspilze gibt am Schluss aber eine geringere Gesamtpunktzahl an – in Sorge darum, man könne sie sonst für Schwindler halten.

Tatsächliche Schwindler lügen indes, um ihre Unehrlichkeit zu decken – ihre Liste ist lang, ihre Verfehlungen vielfältig: US-Präsident Bill Clinton (77) leugnete eine Sexaffäre, das Disco-Pop-Duo Milli Vanilli sang nie, Radrennfahrer Lance Armstrong (52) dopte, Klonforscher Woo Suk Hwang (67) fälschte Studien, Maler Wolfgang Beltracchi (72) Kunst und «Spiegel»-Redaktor Claas Relotius (38) Reportagen.

«Der Fall Relotius» sorgt im Dezember 2018 für grosse Schlagzeilen, denn gerade Medien sind der Wahrheit besonders verpflichtet. Die Lüge ist höchstens als Arbeitsmethode zulässig – etwa für den deutschen Investigativ-Journalisten Günter Wallraff (81), der sich einmal als Türke Ali ausgab. «Man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren», schreibt er im daraus folgenden Buch «Ganz unten» (1985), «muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.»

Von Schriftstellern erwartet man, dass sie lügen

«Du sollst nicht lügen, ausser du bist Schriftsteller, dann wird es von dir erwartet», sagt der Schweizer Autor Charles Lewinsky (77) in einem Blick-Interview anlässlich seines neuesten Buchs «Der Stotterer» (2019) über einen Meisterlügner. Klar, all diese Werke haben ein Etikett wie Roman, Märchen oder Drama und sind so als Erfindungen erkennbar. Was aber, wenn dieses Etikett fehlt?

Robert Gernhardt (1937–2006), F. W. Bernstein (1938–2018) und F. K. Waechter (1937–2005) veröffentlichen 1966 «Die Wahrheit über Arnold Hau», die viele für eine echte Biografie halten. 1998 fingiert der Londoner Autor William Boyd (71) die Lebensgeschichte eines amerikanischen Künstlers namens Nat Tate (Nat für National Gallery, Tate für Tate Modern) und bietet für die Vernissage David Bowie (1947–2016) als vermeintlichen Sammler von Tate auf – alle fallen drauf rein.

Und die von Loriot (1923–2011) erfundene Steinlaus hat es sogar zu einem Lexikoneintrag geschafft. Sie lachen? Gewiss, solche Lügen haben etwas Erheiterndes. Und so muss man sich in Bezug auf Münchausen dem Diktum des deutschen Dichters Wilhelm Genazino (1943–2018) anschliessen: «Auch Baron Münchhausen, einen fürchterlichen Aufschneider und Lügner, müssen wir uns als glücklichen Menschen vorstellen.»

Anna von Münchhausen: «Der Lügenbaron – mein fantastischer Vorfahr», Kindler 


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