Autor Charles Lewinsky will zum Nachdenken anregen
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Neuer Roman «Der Stotterer»:Autor Charles Lewinsky will zum Nachdenken anregen

Charles Lewinsky (72) über sein neues Buch «Der Stotterer» und den Umgang mit der Wahrheit
«Jeder Mensch lügt pausenlos»

Heute erscheint «Der Stotterer», der neue Roman des Schweizer Bestseller-Autors Charles Lewinsky (72, «Melnitz»). Mangels mündlicher Ausdruckskraft mausert sich der zum schreibenden Meisterlügner. Ein Interview mit dem gesprächigen Autor.
Publiziert: 19.03.2019 um 23:05 Uhr
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Aktualisiert: 09.04.2021 um 15:02 Uhr
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Vorhang auf für den neuen Roman von Charles Lewinsky: «Der Stotterer» von Charles Lewinsky erscheint beim Diogenes-Verlag.
Foto: Siggi Bucher
Daniel Arnet

Herr Lewinsky, was halten Sie vom achten Gebot?
Welches ist das?

«Du sollst nicht lügen.»
Ah, ich habe die nie nummeriert. Aber das ist eh verkürzt rausgekommen: Moses ist eine Gesetzestafel runtergefallen, und da ist was weggebrochen. Korrekt heisst es: «Du sollst nicht lügen, ausser du bist Schriftsteller, dann wird es von dir erwartet.»

Der Familienmensch

Von der TV-Sitcom «Fascht e Familie» (1994–1999) über die Familiensaga «Melnitz» (2006) bis zu «Der Stotterer» (2019), ein erklärter Familienhasser («Natürliche Feinde jedes Kindes. ELTERN»): Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky (72) deckt das ganze Spektrum ab. Ob er Drehbücher, Romane oder Musicals («Gotthelf», «Deep») schreibt oder gar selbst für «Moesie & Pusik» auf der Bühne steht – der Familienmensch Lewinsky führt alles zum Erfolg.

Charles Lewinsky, «Der Stotterer», Diogenes-Verlag

Bühnenprogramm «Moesie & Pusik » mit Markus Schönholzer, nächste Vorstellung am 29. März in Rüti ZH.

Von der TV-Sitcom «Fascht e Familie» (1994–1999) über die Familiensaga «Melnitz» (2006) bis zu «Der Stotterer» (2019), ein erklärter Familienhasser («Natürliche Feinde jedes Kindes. ELTERN»): Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky (72) deckt das ganze Spektrum ab. Ob er Drehbücher, Romane oder Musicals («Gotthelf», «Deep») schreibt oder gar selbst für «Moesie & Pusik» auf der Bühne steht – der Familienmensch Lewinsky führt alles zum Erfolg.

Charles Lewinsky, «Der Stotterer», Diogenes-Verlag

Bühnenprogramm «Moesie & Pusik » mit Markus Schönholzer, nächste Vorstellung am 29. März in Rüti ZH.

Lügen Sie nur, wenn Sie schreiben?
Nein, jeder Mensch lügt pausenlos. Ohne Lügen würden die menschlichen Beziehungen gar nicht funktionieren. Denn die meisten sind positiv gemeint, wenn man etwa sagt «du siehst gut aus», obwohl man es gar nicht meint. Wer behauptet, er lüge nie, der lügt.

In Ihrem neuen Roman «Der Stotterer» wird die Titelfigur zum schreibenden Meisterlügner. Das erinnert an Claas Relotius, der vor allem für den «Spiegel» Artikel zusammenlog.
Der Stotterer würde sich selber als kreativen Menschen betrachten. Claas Relotius sieht sich bestimmt auch nicht primär als Lügner, sondern als guten Journalisten. Dass er immer mehr log, war eine Nebenerscheinung, um ein noch besserer Journalist zu werden.

Was dachten Sie, als Sie letzten Dezember vom Fall Relotius hörten?
Mir ging durch den Kopf: Jetzt denken dann alle, ich habe den angestellt, um Werbung für mein Buch zu machen.

Relotius log aus Geltungssucht …
… das sagen Sie!

… und Ihre Romanfigur aus Rache. Ist das verzeihlicher?
Wenn man die Güterabwägung macht, dann kämpft jeder mit den Waffen, die er hat. In meinem Roman gibt es keine moralische Bewertung.

Sind alle Lügen gleich zu bewerten?
Nein. Ich kann Ihnen eine Geschichte aus meinem ersten Jahr am Theater erzählen.

Gerne.
Da gab es einen Kleindarsteller, der mit tödlichem Krebs im Spital lag. Sein Traum war, noch ein Mal auf der Bühne zu stehen.

Und dann?
Der Intendant ging ins Spital und log: «Weil so viele Schauspieler krank sind, kann ich eine Rolle nicht mehr besetzen. Kannst du nicht für eine Vorstellung einspringen? Es geht dir ja besser.» Dann fuhren wir ihn mit Krankenwagen ins Theater, er sagte seine Sätze – zwei Tage später war er tot.

Eine Notlüge.
Ja, und ich bin stolz darauf, denn die Lüge hatte einen positiven Effekt. Die Aufführung wäre auch ohne ihn über die Bühne gegangen, aber es tat ihm gut. Oder nehmen Sie die heutigen Teenager: Jeder hat eine App auf dem Handy, womit sich Selfies schöner machen lassen. Die Fotos, die rausgehen, sind gelogen, aber wollen wir ihnen die Freude nehmen?

Ist eine Gesellschaft ohne Lüge vorstellbar?
Nein, nicht ohne die höflichen Lügen.

Wie lernt man, höflich zu lügen?
Das ist nicht einmal eine Kunst – das lernen wir von Kindsbeinen an.

Wo lernen wir das?
Im täglichen Leben. Mein jüngster, zweijähriger Enkel hat kürzlich auf originelle Weise zum ersten Mal gelogen. Seine Mutter sagte ihm: «Du darfst dort nicht raufklettern, du bist doch keine Katze.» Worauf er antwortete: «Miau!»

Haben die sozialen Medien zur Verbreitung der Lüge beigetragen?
Gewiss, es ist einfacher, sie zu verbreiten. Kürzlich gab es an einer Schule in den USA einen Masernausbruch. Als eine Mutter gefragt wurde, weshalb sie ihr Kind nicht geimpft hatte, sagte sie, sie habe Belege für die negative Auswirkung – das habe sie alles auf Facebook gelesen.

Donald Trump nutzt soziale Medien auch sehr gerne.
Trump ist nicht der klassische Lügner. Der klassische Lügner weiss, wie etwas ist, aber behauptet aus einem praktischen Grund etwas anderes. Aber Trump weiss ja gar nicht, wie etwas ist: Die Wahrheit ist für ihn das, was er zuletzt bei Fox News sah.

Bewusst oder nicht bewusst: Ist ein lügender Präsident haltbar?
Ich kann mir durchaus Situationen vorstellen, in denen ich erwarte, dass der Präsident lügt. Als die Lehman-Brothers-Krise war, stand die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Medien und sagte: «Macht euch keine Sorgen, wir haben alles im Griff.»

Vielleicht glaubte sie wirklich daran.
Egal, das Wichtige ist, dass die Bevölkerung damals diese beruhigende Botschaft brauchte.

Aber es gibt doch gesellschaftliche Grenzen. So geht es absolut nicht, wenn man den Holocaust leugnet.
Wir haben moralisch beschlossen, dass das nicht geht.

Hilft da eine Strafnorm?
Man kann einen Lügner bestrafen, aber man kann ihn nicht heilen.

Sollte man solche Lügner einfach nicht beachten?
Natürlich muss man ihnen widersprechen. Aber man darf nicht erwarten, dass man dadurch die Welt verändert. Churchill sagte einmal: «Eine Lüge ist schon um die halbe Welt, bevor die Wahrheit auch nur ihre Hose angezogen hat.»

Wie kann man der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen?
Ich habe kein Rezept, sonst wäre ich Guru und nicht Schriftsteller.

Können Sie als Autor nichts bewirken?
Ich habe Kollegen, die ihre Wirkung enorm überschätzen. Jeder Fussballkommentator hat die grössere Wirkung als ein Autor mit einem Buch. Wenn Sie schauen, wie viele Bücher im Laufe der Geschichte etwas veränderten, dann sind das ganz wenige.

Welches sind die unerträglicheren Menschen – die offensichtlichen Lügner oder die scheinbaren Wahrheitsverkünder?
Jene, die alles zu wissen glauben, lügen ja aus ihrer Sicht nicht.

Leben Menschen, die die Wahrheit zu kennen glauben, besser?
Einfacher. Ich habe orthodoxe Verwandte, die haben weniger Probleme, weil sie viele Sachen nicht überlegen müssen, da sie Regeln haben. Manchmal begründen sie auf seltsame Art, weshalb etwas schon richtig ist. Aber sie sind glücklich.

Die Wahrheit: Gibt es die?
Es gibt Wahrheiten: «Eins und eins gibt zwei» ist eine. Und wenn ich ein Glas hochhebe und es loslasse, dann fällt es hinunter. Aber wir glaubten auch, Zeit und Raum seien Wahrheiten – dann kam Einstein und sagt: Nein, das ist keine.

Aber der Mensch hat doch das Bedürfnis nach Wahrheit.
Die absolute Wahrheit gibt es nicht – vor allem nicht in unserer Erinnerung, denn wir erinnern uns nie an Sachen, wie sie wirklich waren. Aber weil der Mensch nach der absoluten Wahrheit sucht, gibt es Religionen.

Aber ob religiös oder nicht: Eine Gesellschaft braucht doch ein gewisses Fundament an Wahrheit.
Ja, wenn in einer Gesellschaft viel gelogen wird, dann wird es echt schwierig. Man muss sich als Bürger auf gewisse Grundsätze verlassen können. Wenn herauskäme, dass in der Schweiz bei Wahlen und Abstimmungen falsch ausgezählt wird, dann würde das ganze System zusammenfallen.

Bei US-Wahlen passierte das schon, das Land gibt es trotzdem noch.
Wir Schweizer haben einen bedeutend höheren Anspruch an die Demokratie als die Amerikaner. Die Amerikaner benutzen gerne grosse Worte. Die Karriere des Genfer Staatsrats Pierre Maudet ist erledigt, auch wenn er es noch nicht gemerkt hat. In den USA wäre das nicht so schlimm.

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