In Politik und Medien hatten sich viele mit dem Status quo abgefunden. Doch dann ging plötzlich alles sehr schnell: Im Herbst 1989 liessen die friedlichen Proteste in der DDR und die Massenflucht ihrer Bürger die Berliner Mauer einstürzen, und im folgenden Frühjahr wurde bei den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland die kommunistische Führung abgewählt. Die neue Regierung in Ost-Berlin handelte mit der westdeutschen Regierung in Bonn den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland aus, der am 3. Oktober 1990 in Kraft trat.
Wie feiert Deutschland in der Coronakrise die Einheit?
Jetzt feiert Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung. Ein Bürgerfest in Potsdam wurde wegen der Corona-Pandemie abgesagt, stattdessen präsentieren sich in der brandenburgischen Landeshauptstadt die 16 deutschen Bundesländer mit einer Ausstellung unter freiem Himmel. Zugleich wird in Deutschland Bilanz gezogen, wie weit man auf dem Weg zur «Inneren Einheit» des Landes und der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West vorangekommen ist.
Was bedeutete die Wiedervereinigung für die deutschen Bürger?
«Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört», hatte der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Berliner Bürgermeister war, gleich nach dem Mauerfall gesagt. Bundeskanzler Helmut Kohl versprach 1990, es werde in gemeinsamer Anstrengung gelingen, die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen «schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln.»
Doch die blühenden Landschaften liessen auf sich warten, und das Zusammenwachsen war schwieriger als gedacht. Für abertausende DDR-Bürger bedeutete die Einheit zunächst einmal den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Denn mit der Einführung der D-Mark in der DDR und der Umstellung von Löhnen und Gehältern von Ost- auf Westmark im Verhältnis eins zu eins zum 1. Juli 1990 verlor die ostdeutsche Industrie mit einem Schlag ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Vergeblich hatten Ökonomen wie der damalige Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl gewarnt, dass die DDR-Wirtschaft den Aufwertungsschock nicht überleben würde. Die Politik wollte es nicht hören. Die früheren DDR-Kombinate konnten in der Marktwirtschaft nicht kostendeckend arbeiten, zumal sie ihre traditionellen Absatzmärkte in der Ex-Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten verloren.
Geld von West nach Ost
Zum Buhmann im Osten wurde die Treuhandanstalt, deren Aufgabe es war, die DDR-Staatsbetriebe schnell zu privatisieren. Ihr wird vorgeworfen, nicht nur marode, sondern auch überlebensfähige Betriebe liquidiert oder billig an westdeutsche Konkurrenten verscherbelt zu haben. Bis heute wird in Deutschland diskutiert, ob es zur Währungsunion überhaupt eine Alternative gegeben hätte, zumal die Einführung der D-Mark im Osten ja populär war. Ohne Zweifel wurden die Schwierigkeiten aber von der Regierung Kohl unterschätzt.
Weit mehr als eine Billion Euro sind in Deutschland seit 1990 von West nach Ost geflossen, um den östlichen Lebensstandard zu heben. Neue Strassen und Leitungsnetze wurden gebaut, die Städte wunderschön saniert, die Infrastruktur ist heute vielfach moderner als im Westen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf Ostdeutschlands (ohne Berlin) stieg laut jüngstem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit von 37 Prozent des gesamtdeutschen Niveaus 1990 auf 73 Prozent 2019. Es nähert sich damit dem EU-Durchschnitt.
Die Bilanz zu dreissig Jahre deutscher Einheit
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, ein deutscher Thinktank, bezeichnete in einer jüngsten Studie die Wiedervereinigung als eine «Erfolgsgeschichte». Gerade im letzten Jahrzehnt habe sich vieles weiter zum Positiven entwickelt, etwa beim Rückgang der Arbeitslosigkeit und dem Zuwachs der Beschäftigung, schreibt das Institut. Allerdings seien nicht überall «blühende Landschaften» entstanden, sondern mancherorts eher «blühende urbane Inseln.»
Zur Bilanz von 30 Jahren Einheit zählt auch die für den Osten ungünstige demografische Entwicklung. Die Einwohnerzahl in den ostdeutschen Bundesländern ist durch Abwanderung und Geburtendefizit seit 1990 um 2,2 Millionen gesunken. Im Westen legte sie um 5,4 Millionen zu. Lebte zur Wiedervereinigung ein Fünftel der Deutschen im Osten, ist es heute nur noch ein Sechstel.
Die wirtschaftliche Strukturschwäche des Ostens spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass kein einziger der 30 im Deutschen Aktienindex DAX vertretenen Konzerne und auch sonst kaum ein Grossunternehmen dort seinen Sitz hat. In den Führungsposten von Hochschulen und Verwaltung dominieren die «Wessis». Jüngst teilte das Innenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hin mit, dass von den 133 Abteilungsleitern in den deutschen Bundesministerien nur 4 im Osten geboren wurden.
Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
In einer Meinungsumfrage der Bertelsmann-Stiftung stimmten jüngst 59 Prozent der Befragten im Osten der Aussage zu, dass Ostdeutsche in Deutschland wie Bürger zweiter Klasse behandelt würden. 71 Prozent befanden, dass Ostdeutsche mehr Anerkennung dafür verdienten, dass die Wende 1989 friedlich verlief. Bei Wahlen zeigt sich im Osten ein hohes Potenzial an Protestwählern. Die rechtspopulistische AfD und die aus der DDR-Staatspartei SED hervorgegangene Partei Die Linke holen dort weit mehr Stimmen als im Westen.
«Ich hatte gedacht, dass die mentale Einigung leichter gehen würde als die der Infrastruktur. Letztendlich ist es umgekehrt gekommen. (...) Die wechselseitige Anerkennung dessen, was das Leben ausgemacht hat, funktioniert nur bedingt», sagte der letzte DDR-Ministerpräsident, Lothar de Maizière (CDU), in einem Interview der «Berliner Zeitung». Zusammen mit Kohl, Brandt, Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Aussenminister Hans-Dietrich Genscher stand er in der Nacht des 3. Oktobers 1990 auf den Stufen des Reichstags von Berlin. Von den fünf Herren auf dem historischen Foto ist de Maizière (80) der einzige, der noch lebt.
Deutsche Einheit ist dennoch eine Erfolgsgeschichte
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, erinnert an die «harten Brüche», die die Wiedervereinigung für viele Bürger in den neuen Ländern angesichts der oft extremen Veränderungen ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse bedeutete. «Die Ostdeutschen sind ja in einer Weise durchgerüttelt worden, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschehen ist», sagt dazu de Maizière. Während sie mit all ihrem Tun auf den Prüfstand gestellt worden seien, hätten die Westdeutschen sagen können, «wir leben so weiter wie bisher».
Wanderwitz zieht aber eine überwiegend positive Bilanz. «Wir haben 30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit, wir leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in einem geeinten Europa. Das Glücksgefühl von 1990 müssen wir zurückholen», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Bei der vollen wirtschaftlichen Angleichung gibt er sich skeptisch. «Ich bin da frei von Illusionen. Es wird immer gewisse Unterschiede geben. Die gibt es auch in den alten Bundesländern», sagt Wanderwitz.
Denken Ostdeutsche anders?
Das Fremdheitsgefühl zwischen Ost- und Westdeutschen hat 30 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich abgenommen, ist aber noch immer nicht ganz verschwunden.
Das könnte Wissenschaftlern zufolge auch damit zusammenhängen, dass die Prägung der Ostdeutschen durch das 1989 untergegangene politische System der sozialistischen DDR bis heute nachwirkt.
Forscher haben bei Befragungen über mehrere Jahre festgestellt, dass sich die gesellschaftspolitischen Einstellungen von jüngeren Deutschen, die im Osten aufgewachsen waren und später in den Westen Deutschlands gezogen sind, zwar weniger stark von den Einstellungen der Menschen aus der alten BRD unterscheiden als dies bei den Ostdeutschen, die im Osten blieben, der Fall ist.
Die West-Wanderer neigen jedoch nach Erkenntnissen der Soziologen und Psychologen nach wie vor stärker als andere Menschen im Westen Deutschlands zu autoritären Positionen und fremdeln auch mit einigen Grundsätzen der Demokratie.
Ein Beispiel: Dem Satz «Unter bestimmten Umständen ist eine Diktatur die bessere Staatsform» stimmten bei Befragungen rund drei Viertel aller im Westen aufgewachsenen Befragten «gar nicht zu». Von den Ostdeutschen, die heute noch im Osten leben, lehnten rund 55 Prozent diese Aussage in dieser Deutlichkeit ab. Für die im Westen lebenden Menschen mit Ost-Jugend lag der Wert bei etwas über 60 Prozent.
Ähnlich verhielt es sich mit der Frage nach härteren Strafen für Straftäter, die als Indikator für autoritäre Einstellungsmuster gilt. Während sich rund 35 Prozent der im Westen Aufgewachsenen voll hinter diese Forderung stellten, waren es unter den Ostdeutschen etwa 55 Prozent. Auch hier fanden sich die nach Westen umgezogenen Deutschen mit ihrer Einstellung in der Mitte wieder. (SDA)
Der 9. November 1989 war der Auftakt zum Fall der Berliner Mauer. Folgende Ereignisse in den Monaten davor haben dazu geführt.
Der 9. November 1989 war der Auftakt zum Fall der Berliner Mauer. Folgende Ereignisse in den Monaten davor haben dazu geführt.