Öffnet man die Tür zum Arbeitsplatz von Andreas Wilhelm (43) in Zürich-Binz, so fällt als Erstes der Geruch auf. Es riecht nicht nach Papier, Kaffee und abgestandener Luft, wie man es von einem Büro erwartet. Eine feine Duftwolke umhüllt uns, erfrischend und süsslich, aber nicht zu aufdringlich. So wie ein gutes Parfüm auf der Haut, das sich langsam verflüchtigt. Düfte sind Wilhelms Geschäft.
Aufgewachsen ist er in Wallisellen ZH. Wilhelm ist eine der besten Nasen der Schweiz. Schon früh fiel sein ausgeprägter Geruchssinn auf. «Ich konnte voraussagen, wenn Militär im Anmarsch war, weil ich das saure Gewehrfett gerochen habe. Das war als Bub sehr lustig!» Sein Talent wurde zur Berufung, heute ist er Parfümeur.
Damit ist er einer der wenigen Menschen, der sein Riechorgan richtig nutzt. Der Rest von uns unterschätzt die Fähigkeit der Nase. Dabei prägen uns Gerüche tiefgreifend, wie wir gerade in der Adventszeit erfahren. Überall duftet es nach Mandarinli, Glühwein, Gewürzen und Guetzli. Bei den meisten von uns ploppen bei den Gerüchen Kindheitserinnerungen auf, und ein wohliges, warmes Gefühl breitet sich im Körper aus. Warum ist das so? Können wir Gerüche fühlen? Und was macht das mit uns? Zeit, sich auf die Spuren unseres Supersinns zu begeben.
Supersinn Nase?
Im Labor von Andreas Wilhelm gibt es viel zu entdecken: Hunderte Fläschchen, auf denen Begriffe wie Hedione oder Florol stehen. Grosse Kanister mit gelben, grünen und roten Flüssigkeiten – Raumdüfte, wie Wilhelm erklärt. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Raums stehen Waagen, bauchige Glasflaschen mit bräunlichen Flüssigkeiten, Pipetten, Reagenzgläser und mobile Kochfelder. Und: Neue Kreationen des Parfümeurs, die noch in der Entwicklungsphase stecken. Wilhelm sagt: «Der Duft riecht blumig und ein bisschen nach Regenwald. Riech mal!» Er soll bald den Raum eines Restaurants aromatisieren. Für die Gäste soll das ein mehrdimensionales Erlebnis schaffen – dessen sie sich jedoch nicht bewusst sind.
Denn obwohl unser Geruchssinn mit jedem Atemzug Gerüche aufnimmt und verarbeitet, entzieht sich das meiste davon unserer bewussten Wahrnehmung. Aus gutem Grund: In unserer Nasenschleimhaut sitzen viele Millionen Riechsinneszellen, die mit Rezeptoren für über 1000 verschiedene Geruchsmoleküle ausgestattet sind. Würde jede Information, die an sie gelangt, direkt in unser Bewusstsein vordringen, wären wir dauerhaft überreizt.
Zum Vergleich: Die menschlichen Sehnerven sind lediglich mit vier Rezeptortypen ausgestattet. Unsere Geschmacksnerven können nur fünf Geschmacksrichtungen unterscheiden, nämlich süss, salzig, sauer, bitter und umami. Der Rest von dem, was wir schmecken, riechen wir eigentlich. Beim Kauen gelangen Geruchsmoleküle über den Gaumen an die Sinneszellen in der Nase und werden dort weiterverarbeitet. Je ausgeprägter der Geruchssinn, desto feiner also auch der Gaumen. Das bestätigt Andreas Wilhelm, der sich als leidenschaftlicher Koch entpuppt.
Doch nicht nur mit dem Geschmack ist unser Geruchssystem verbunden, sondern auch mit dem limbischen System. Das ist jener älteste Teil des Gehirns, in dem Emotionen und Assoziationen sowie Gedächtnisprozesse verarbeitet werden. Die Geruchspsychologin Bettina M. Pause schreibt in ihrem Buch «Alles Geruchssache»: «Es ist nicht die Vernunft oder die Intelligenz, die den Menschen zum Menschen macht, sondern das Bauchgefühl, und das beginnt in der Nase.» Unser Riechorgan filtert heraus, ob ein Lebensmittel, das wir zu uns nehmen wollen, verdorben ist, und warnt uns innerhalb von Millisekunden vor Gefahren wie Feuer oder einem Gasleck.
Zudem verrät es uns alles Wichtige über unsere Mitmenschen: Ist eine Person gesund oder krank, ist sie alt oder jung, glücklich oder gereizt, aggressiv, gestresst oder hat sie gar Angst? Schlussendlich entscheidet sie mit darüber, wer unsere Freundin oder Partnerin wird. Die dafür nötigen Informationen bekommt sie aus dem körpereigenen Geruch einer Person. Je nachdem, wie dessen chemische Zusammensetzung ist, können wir eine Person riechen – oder eben nicht. Die Kriterien, nach denen unsere Nase entscheidet, sind vielseitig, vor allem aber individuell.
Zurück im Labor des Mannes, dessen Kapital sein umfassendes Geruchsgedächtnis ist. Er steht am Fenster. In der Hand hält er eine Zigarette, den Rauch bläst er hinaus in die Kälte. In seiner zwanzigjährigen Berufslaufbahn als Parfümeur hat er in seinem Kopf über 10'000 Gerüche abgespeichert. Das werde auch vom Rauchen nicht beeinflusst, erklärt er. Alle 30 bis 60 Tage regenerieren sich die Sinneszellen in der Nase. «Entscheidend für die Verinnerlichung eines Geruchs ist das dazugehörige Gefühl», erklärt er.
«Alle Gerüche sind für mich neutral»
Seine Gerüche hat Wilhelm so präsent, dass die Konzeption eines neuen Dufts ausschliesslich in seinem Kopf stattfindet. «Es ist wie bei einem Komponisten, der, wenn er Noten aufschreibt, sie gleichzeitig schon hören kann.» In seinem gewohnten Umfeld gibt es kaum einen Geruch, den der Parfümeur nicht erkennt. Und wenn doch, dann sorgt es für grosse Irritation, wie er mit ernster Miene erzählt. Nicht, weil etwas stinkt, sondern weil er den Geruch nicht verstehen kann.
Für den Duftkünstler sind – abgesehen von der unterbewussten, chemischen Wahrnehmung – alle Gerüche neutral. Weiblich oder männlich, positiv oder negativ, eine solche Einteilung gibt es für ihn nicht. «Das würde mich in meiner Arbeit und im Leben extrem limitieren», erklärt Wilhelm. Der zweifache Vater versucht deswegen auch seine Kinder mit einem möglichst neutralen Wertesystem für Gerüche zu erziehen. Der Geruch seiner Kinder stellt die einzige Ausnahme in seinem System dar: Nichts riecht er lieber.
Neben der ganz individuellen Bewertung von Gerüchen gibt es auch gesellschaftliche Bewertungsraster. «Gerüche sind auch sozial gelernt», schreibt Bettina M. Pause. Von Land zu Land und von Kultur zu Kultur kann das abweichen. Auch im historischen Verlauf wurden Gerüche unterschiedlich bewertet. In früheren Jahrhunderten, wie im Mittelalter, haben die Menschen nicht so empfindlich auf fremden Körpergeruch wie zum Beispiel Schweiss reagiert, vermutet die Geruchsforscherin. Dass Menschen jedoch seit Tausenden von Jahren und weltweit Parfüms einsetzten, weise darauf hin, dass man sich dem Einfluss von Wohlgeruch auf Stimmung und Attraktivität schon früh bewusst war.
Heute sind wir geradezu besessen davon, gut zu riechen. Schweissgeruch? Bitte nicht! Deodorant, Parfüm, Bodyspray, Haarshampoo, Duschgel, Intimlotion, Fusspuder, Creme – alles Produkte, die unseren Körpergeruch verbessern sollen. Wir tun viel dafür, dass unser Körper nicht nach Haut, Haaren oder seinen sonstigen natürlichen Duftstoffen riecht.
Beliebte Parfüms für Männer tragen Namen wie «Sauvage» oder «Cool Water», beworben werden sie von attraktiven, durchtrainierten Männern. Die für Frauen heissen «La vie est belle» oder «Black Opium». Für Letzteres wirbt zurzeit Zoë Isabella Kravitz: Ganz in Schwarz, mit dunkel geschminkten Augen und verführerisch geöffneten Lippen sprüht sie sich den Duft an den Hals – und prompt zieht sie die Menschen wie magisch an.
Die Botschaft ist klar: Mit diesem Duft am Körper ist Frau anziehend und sexy. Inspiriert wurde dieses Bild von der Annahme, der Mensch würde, wie auch Tiere, bei der Partnersuche Sexuallockstoffe ausstossen. Geruchsforscherin Bettina M. Pause hat die Studien, die das nachweisen sollen, genau untersucht. Dabei sind ihr Lücken und Fehlschlüsse aufgefallen. Ein menschliches Pheromon hält sie deshalb für ein Gerücht, genau wie die Vorstellung, ein Parfüm könnte uns für das andere Geschlecht erotischer wirken lassen. Und dennoch bedienen sich die mehrköpfigen Marketingteams grosser Duftstoffhersteller erfolgreich dieser Erzählweise. Weltweit betrug im Jahr 2020 das Marktvolumen für Parfüms 42 Milliarden US-Dollar. Yves Saint Laurents «Black Opium» stammt übrigens aus dem Schweizer Familienunternehmen Firmenich, der Nummer zwei auf dem weltweiten Duftstoffmarkt.
Geschichte vor Geruch
Auf Platz eins steht Givaudan, jenes Schweizer Unternehmen, bei dem auch die Karriere von Andreas Wilhelm begann. 1993 trat er dort seine Lehre zum Chemielaborant an. Später folgte ein Unternehmenswechsel und die Ausbildung zum Parfümeur. In den Jahren danach war er für verschiedene Parfümhäuser tätig. Immer der Nase nach bereiste er für seine Kreationen die ganze Welt. Er kreierte alles – von Parfüms für reiche Araber bis hin zur Granatapfellinie des Naturkosmetikherstellers Weleda.
Irgendwann hatte er genug von der Industrie und machte sich selbständig. Seine Kritik: «Es geht gar nicht mehr um den Geruch, sondern nur um die Geschichte dahinter.» Zudem bemängelt er die Intransparenz der Branche. «Man weiss nie, was eigentlich in einem Duft drin ist. Die meisten Mainstream-Düfte sind ohnehin leicht voneinander abgewandelte Kopien.» 2017 lancierte er deshalb seine Marke Perfume.Sucks. Sieben Düfte, unisex, keine Parfüms, sondern «alkoholische Lösungen». Auf der Flasche stehen die Inhaltsstoffe. Inklusive Mengenangaben.
Schlussendlich ist und bleibt der Geruchssinn etwas Persönliches. Der eine hat seine Mitmenschen gerne stärker parfümiert, die andere präferiert natürliche Gerüche. Manche Menschen lieben den Duft von Kaffee, andere können ihn nicht ab. Für viele Schweizer löst der Geruch von gerösteten Marroni, süssen Gewürzen, Glühwein und fruchtigen Mandarinli Vorfreude auf das Weihnachtsfest aus. «Ein Araber kann damit aber nichts anfangen», sagt Andreas Wilhelm. «Im Dezember herrschen dort Temperaturen um die 25 Grad, und es riecht frischer, frühlingshafter.»
Auch für den Parfümeur riecht der Winter in der Schweiz anders als für die meisten. Nämlich nach Kälte. «Wenn man in Zürich am Bellevue steht, und im Glarnerland hat es schon geschneit, dann weht dort ein ganz besonderer Duft. Eben: Schnee und Kälte.» Profi, wie er ist, kann er den Geruch sogar erklären: Er stammt von einer besonderen Algenart, die dort im Gebirge wächst. Nur riecht er in geringen Dosen für den Menschen nicht nach einer Pflanze, sondern wird mit Schnee assoziiert.