In den Schalterhallen der Credit Suisse werden Kunden in Zukunft geduzt, sofern sie das nicht ausdrücklich anders wollen. Serge Fehr, Leiter des Privatkundengeschäfts, möchte die Regeln einer der letzten Branchen ändern, in der das Duzen von Kunden bisher tabu war. Man wolle offener und näher am Zeitgeist sein, sagt er in einem Bericht des «Tages-Anzeigers».
«Das wäre für mich ein Grund, die Bank zu wechseln», schreibt eine Leserin in der Kommentarspalte eines BLICK-Artikels, in dem Oswald Grübel (76), ehemals CEO der Credit Suisse, seine Meinung zum «cooleren» Auftritt der CS-Mitarbeitenden kundtut. Diese werden in Zukunft auch keine Krawatten und Foulards mehr um den Hals tragen. Dafür Turnschuhe an den Füssen.
Grübel schreibt mit zynischem Unterton, dass es praktisch für die Mitarbeitenden sei, wenn man ihre Nachnamen nicht kenne, falls sich ein Kunde beschweren wolle.
Es gibt wohl kein Thema, zu dem Jung und Alt, Stadt und Land, Akademiker und Praktiker unterschiedlichere Meinungen haben. Ein Leser schreibt in der Kommentarspalte, dass es auf dem Land bereits üblich sei, auch Banker zu duzen.
Das Sie – ein Symbol der Macht?
Nicht nur üblich, sondern die Regel ist das Duzen in den sozialen Medien. Das führt so weit, dass das Siezen dort als Affront wahrgenommen wird. Nicht weniger als «ein verbliebenes Symbol der Macht» sei die Höflichkeitsform, schreibt der deutsche Youtube-Star Rezo (28 Jahre alt, 1,76 Millionen Abonnenten), der sich immer wieder pointiert zu politischen Themen äussert, in seiner Kolumne auf «Zeit Online». Das Sie in den sozialen Medien zu verwenden, sei «grob unhöflich» und «ein Zeichen der Respektlosigkeit».
Bereits in den 90er-Jahren, sagt er, habe sich in den ersten deutschsprachigen Foren im Internet das Du durchgesetzt. Alter, Beruf und Bildungsstand des Gegenübers seien dort nicht direkt feststellbar gewesen. «Respekt konnte man sich nur durch den Inhalt der eigenen Äusserungen verdienen.»
Jemanden in sozialen Netzwerken zu siezen, kann laut Rezo ein Versuch sein, Machtstrukturen auszuweiten. «In jedem Fall fühlt es sich für viele Digital Natives so an, als würde ein Anzugträger in unser Wohnzimmer kommen und auf unseren guten alten Wohlfühlteppich pissen.»
Eine Art Seilziehen findet statt
Das Duzen kam mit der 68er-Bewegung auf – wer von ihm Gebrauch machte, wollte gesellschaftliche Hierarchien und soziale Grenzen durchbrechen. In den 80er-Jahren schwappte es in die Geschäftswelt über. So radikal wie in den sozialen Medien ist die Du-Form bis heute jedoch nirgendwo verbreitet. Warum ist das so?
Im Internet sei der Ton umgangssprachlich, oft humorvoll, sagt Christiane Hohenstein (57), Professorin für Interkulturalität und Sprachdiversität an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Das suggeriere ein freundschaftliches Verhältnis. «Viele User offenbaren online Dinge von sich, die sie in Face-to-face-Situationen für sich behalten würden.»
Dass das Sie ganz aussterben werde, glaubt Hohenstein nicht. Es werde immer Menschen geben, die differenziert Respekts- und Distanzverhältnisse ausdrücken wollen, sagt sie. Was im Moment stattfinde, sei ein Diskurs, eine Art Seilziehen. «Es verändert noch nicht gleich die Wirklichkeit.»
Kompetenz betonen anstelle von Status
Innerhalb der Unternehmen, also nicht gegenüber Kunden, sei das Siezen seiner Meinung nach absolut antiquiert, sagt Stefan Heer (44). Der Arbeits- und Organisationspsychologe aus Bühler AR unterstützt Unternehmen bei Themen wie Führung und Innovation. «Das Du rückt die Kompetenz in den Vordergrund und den Status in den Hintergrund.»
Die Duz-Kultur in Firmen gehe einher mit flachen Hierarchien, sagt Heer. Mitarbeitende würden heute mehr einbezogen in Entscheidungen, seien aber auch stärker dazu verpflichtet mitzudenken. «Für diejenigen, die sich das Du mit dem Chef jahrelang erarbeitet haben, war es schwierig, als sie das Privileg verloren.»
Duzen und Siezen sei an sich eine «coole Möglichkeit», Nähe und Distanz zu regeln, fügt Heer an. «Wenn man sich jahrelang siezt und dann zum Du übergeht, hebt das eine Beziehung auf eine neue Stufe.» Heer kann sich noch gut an den feierlichen Moment erinnern, als sein Sekundarlehrer nach Abschluss der Schule der ganzen Klasse das Du anbot. «Es war ein Angebot, von nun an auf Augenhöhe zu kommunizieren.» Er sei danach immer wieder ins Sie gekippt. «Ich traute mich noch nicht in die Du-Zone.»
«Ça va, Manu?»
Heute müsse man Nähe und Distanz anders regeln als durch die Anrede, sagt Heer. «Die digitale, globalisierte Welt ist generell kompliziert geworden. Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Wer auf der Position ‹früher war alles besser› beharrt, wird abgehängt.»
«Du nennst mich entweder ‹Monsieur le Président de la République› oder ‹Monsieur›», sagte Emmanuel Macron 2018 zu einem Teenager, der ihm an einer Gedenkveranstaltung aus der Menge ein «Ça va, Manu?» entgegengerufen hatte. Der französische Präsident redete sich in Rage, riet dem Jugendlichen, erst einmal ein Diplom zu machen, bevor er eine Revolution anzuzetteln versuche. Das Video der Szene teilte Macron auf seiner Twitter-Page und erhielt dafür positive Reaktionen von älteren Usern. Ob es seine Wahlchancen in der Social-Media-Community verbessert hat, ist fraglich.
Herr Stokar, was sind die klassischen Regeln beim Duzen?
Die Regel heisst: Rang vor Alter vor Geschlecht. Wenn Sie als Journalist einen Bundesrat interviewen, kann er Ihnen das Du anbieten. Auch wenn er jünger ist. Wenn zwei den gleichen Rang und dasselbe Alter, aber nicht dasselbe Geschlecht haben, darf die Frau dem Mann das Du anbieten.
Was tun, wenn einen die Verkäuferin im Laden oder jetzt die Bankberaterin duzt?
Als 61-Jähriger habe ich etwas Mühe damit. Ich sieze zurück.
Wie sieht es mit Nachbarn aus – Du oder Sie?
Nur weil man dieselbe Adresse hat oder an derselben Strasse wohnt, ist man nicht automatisch auf einer Du-Basis.
Was halten Sie als Knigge-Experte von der Verbreitung des Du?
Schlimm finde ich es nicht. Ich denke aber, dass man sich in den meisten Fällen nicht weniger schätzt, wenn man sich siezt. Vom Sie zum Du zu wechseln, kann etwas Besonderes sein. Wo es keine Distanz gibt, gibt es keine Nähe.
Sind Knigge-Regeln heute noch zeitgemäss?
Es ist sicher gut, wenn man sich an ihnen orientieren kann. Es gibt aber heute viel mehr Spielraum. Mein Grossvater lebte noch nach dem Motto «No brown in town» – keine braunen Schuhe in der Stadt. Er trug Hut, Anzug und Krawatte, egal ob er einkaufen, zur Arbeit oder an einen Fussballmatch ging. Heute ist es die Situation, die das Verhalten bestimmt.
Christoph Stokar aus Zürich ist Autor von «Der Schweizer Knigge» und «Der Schweizer Business Knigge». Er hat die Hotelfachschule absolviert und wechselte danach in die Werbebranche.
Herr Stokar, was sind die klassischen Regeln beim Duzen?
Die Regel heisst: Rang vor Alter vor Geschlecht. Wenn Sie als Journalist einen Bundesrat interviewen, kann er Ihnen das Du anbieten. Auch wenn er jünger ist. Wenn zwei den gleichen Rang und dasselbe Alter, aber nicht dasselbe Geschlecht haben, darf die Frau dem Mann das Du anbieten.
Was tun, wenn einen die Verkäuferin im Laden oder jetzt die Bankberaterin duzt?
Als 61-Jähriger habe ich etwas Mühe damit. Ich sieze zurück.
Wie sieht es mit Nachbarn aus – Du oder Sie?
Nur weil man dieselbe Adresse hat oder an derselben Strasse wohnt, ist man nicht automatisch auf einer Du-Basis.
Was halten Sie als Knigge-Experte von der Verbreitung des Du?
Schlimm finde ich es nicht. Ich denke aber, dass man sich in den meisten Fällen nicht weniger schätzt, wenn man sich siezt. Vom Sie zum Du zu wechseln, kann etwas Besonderes sein. Wo es keine Distanz gibt, gibt es keine Nähe.
Sind Knigge-Regeln heute noch zeitgemäss?
Es ist sicher gut, wenn man sich an ihnen orientieren kann. Es gibt aber heute viel mehr Spielraum. Mein Grossvater lebte noch nach dem Motto «No brown in town» – keine braunen Schuhe in der Stadt. Er trug Hut, Anzug und Krawatte, egal ob er einkaufen, zur Arbeit oder an einen Fussballmatch ging. Heute ist es die Situation, die das Verhalten bestimmt.
Christoph Stokar aus Zürich ist Autor von «Der Schweizer Knigge» und «Der Schweizer Business Knigge». Er hat die Hotelfachschule absolviert und wechselte danach in die Werbebranche.