Cuno Affolter, lebt Ihre Tante Mathilde noch?
Cuno Affolter: Nein, die ist leider schon lange verstorben.
Hatten Sie sich bei ihr einmal für Ihre Berufung bedankt?
Ja, gegen Ende ihres Lebens bekam sie mit, dass meine Berufung zum Comic ihrer Initialzündung zu verdanken ist. Meine Tante lebte in Genf und hatte somit Kontakt zur comicaffinen Szene im frankofonen Raum.
Von Tante Mathilde bekamen Sie jeweils zu Weihnachten einen «Tim und Struppi»-Band geschenkt.
Unter dem Baum hatte es immer dasselbe Format eines Geschenks, da wusste ich: Das ist der neue Band!
Welche Figur faszinierte Sie damals am meisten?
Das kann ich nicht sagen, für mich war das eine Einheit: Die Figuren tragen alle verschiedene Aspekte des Charakters von Zeichner Hergé. Aber sicher ist Kapitän Haddock spektakulärer als Tim. Und Schulze und Schultze brachten mich immer wieder zum Lachen.
In Ihrer Jugend galt das Lesen von Comics noch als intelligenzbedrohend. Wie sahen das Ihre Eltern?
Das war kein Problem, weil ich auch viel anderes las. Ich bin im solothurnischen Trimbach aufgewachsen und komme aus einem katholischen Umfeld, wo Comics sehr akzeptiert waren.
Sind katholische Gebiete comicaffiner?
Es gibt keine Untersuchung dazu, aber ich sehe es im Kontext des Bildersturms der Protestanten in der Reformation – die wollten keine Abbildung mehr sehen. Es ist kein Zufall, dass das katholische Frankreich führend in Sachen Comics in Europa war. Die Kirche förderte dort Comics enorm.
Wie zeigte sich das konkret?
«Tintin» («Tim und Struppi») war in den Händen der Katholiken, auch «Spirou». Die Comics enthielten Action und Abenteuer, aber auch sehr viele Belehrungen. Es gab auch Comics für Frauen, die Strickanleitungen enthielten, aber immer auch Bezüge zu Heiligen und wie man sich aufführen soll.
Comics für Frauen – aber wo sind Comics von Frauen?
In der Zwischenzeit gibt es schon einige Zeichnerinnen – der Anteil ist in Frankreich bei über 25 Prozent. In Japan hat es einen grossen Anteil von Frauen, die Mangas für Frauen zeichnen. Aber bis in die 1970er-Jahre machten Männer für Männer Comics.
Hugo Pratt, Art Spiegelman, Moebius, Mordillo: Sie trafen während Ihrer Karriere alle grossen Zeichner. Welche Begegnung war die eindrücklichste?
Neil Gaiman, dessen «Sandmann»-Geschichten nicht zu meinem Universum gehören, berührte mich mitunter am meisten. Das ist ein unglaublicher Mensch mit einer unglaublichen Ausstrahlung. Auch Mordillo, den man leicht unterschätzen könnte, war sehr toll.
Mordillo, berühmt durch seine rundlichen Figuren, starb vor zwei Jahren.
Was war so toll an ihm?
Er berührte mich mit seiner Professionalität und seinem menschlichen Charme. Wie Gaiman hatte er keine Starallüren. Es ist überhaupt ein Milieu ohne grosse Starallüren, ein Ort, an dem die Menschen sehr einsam arbeiten. Das verlangt viel Disziplin ab. Früher mussten sie zwei Seiten machen pro Woche. Das kann man sich heute nicht mehr leisten.
Früher hatte jede Zeitung einen Comic, heute kaum mehr eine.
In den USA ist das evident: Durch das Zeitungssterben stirbt auch der klassische Zeitungs-Comic – drei Bilder, ein Gag.
Wie arbeiten die heute? Sie entdeckten und förderten die Schweizer Thomas Ott und Enrico Marini.
Marini, der heute auch Batman zeichnet, war als Jugendlicher derart professionell. Er wollte unbedingt Comiczeichner werden. Das ist ein knallharter Beruf, wenn man damit Geld verdienen will. Viele haben Auflagen von 2000 bis 3000 Exemplaren, nicht mehr. Heute müssen Zeichner viel schneller arbeiten.
Welche Auswirkungen hat das auf die Comic-Szene?
Von den Kunstschulen kommen heute viele Zeichner, die früher eigentlich nicht Comics machen wollten. Man spürt deshalb ein Manko an Geschichten – viele zeichnen heute über ihre Probleme und Geschichten, die sie erlebten.
Offenbar nicht Ihr Ding.
Nicht von ungefähr gewann eben am Comicfestival in Delsberg JU Leonie Bischoff mit der Geschichte zu «Anaïs Nin» den Hauptpreis. Das ist Literatur. Wenn der beste Comic eine Geschichte ist, die auf einem literarischen Werk basiert, dann habe ich meine Zweifel.
Wann ist ein Comic gut?
Wenn Geschichte und Bild einen berühren. Insofern kann auch ein schlecht gezeichneter Comic ein Meisterwerk sein und ein toll gezeichneter Comic, der keine eigene Story erzählt, ein Mist.
Sie sammelten 40'000 Comics und besitzen jetzt noch 40 Bände. Erzählen Sie, wie es dazu kam!
Ich vermachte meine Sammlung 1999 der Stadt Lausanne und bekam dafür den Job des Konservators. Die Stadtbibliothek hatte eine Sammlung mit etwa 30'000 Stücken. Aus der Fusion gingen dann 60'000 hervor, da es auch doppelte Exemplare gab.
Sie gingen eben erst in Pension. Wie gross ist die Sammlung heute?
Heute hat die Sammlung über 300'000 Dokumente – das ist die zweitgrösste in Europa nach Angoulême in Frankreich. Wir haben nicht nur Comics gesammelt, sondern auch Originalzeichnungen, Kataloge, Artikel zu Comics, Skizzen, Nachlässe von Schweizer Zeichnern.
Was zeichnet das Centre BD de la Ville de Lausanne besonders aus?
Was die Lausanner Sammlung speziell macht, ist ihre Breite. Das hat damit zu tun, dass ich die Comics als Sozialdokument sehe, ein Dokument der Reproduktion in unserer Gesellschaft: Wie werden Gruppen dargestellt? Wie Städte? Ich sammelte auch über 30 Jahre lang Bilder von Darstellungen der Schweiz in Comics.
Und, wie sehen die aus?
Früher gab es mehr Alpendarstellungen. Aber etwas vom Eindrücklichsten ist die Darstellung der Schweiz, was Grenzen anbelangt.
Inwiefern?
Wenn ein Comic-Held nach Amerika geht, sieht man den Zoll nicht. Wenn er allerdings in die Schweiz kommt, gelangt er meist an den Schweizer Zoll und muss seinen Pass zeigen. Da erkennt man die Vorstellung der Schweiz als ein Land, das sich abgrenzt und isoliert ist.
Comics arbeiten auch mit Klischees der Schweiz, denken wir nur an «Asterix bei den Schweizern».
Interessanterweise kommt Schokolade weniger oft als Klischee vor als Käse. Das hat damit zu tun, dass man Käse mit den Fäden beim Fondue besser zeichnen kann.
Verschwinden solche nationalen Eigenheiten im Internetzeitalter?
Heute, da Bilder übers Internet überall zugänglich sind, hat man auch Elemente von Graffitis und Mangas. Früher konnte man noch sagen: Das ist ein US-Stil, das ein französischer – das löst sich immer mehr auf durch die Gamewelt und Überschneidung der Medien.
Ist der Comic noch zeitgemäss?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass er nicht mehr das Medium ist, das er war, als ich aufwuchs.
Ist Instagram das neue Trägermedium für Comics?
Es soll Zeichner geben, die sich dort verwirklichen können. Aber es ist nicht dasselbe Medium, es ist ein neues. In Japan gibt es Mangas, die animiert auf dem Handy funktionieren, aber das ist etwas anderes.
Sie begannen 1983 auch in einem seltsamen Medium als Comic-Experte Cuno «Comix» Affolter – im Radio!
Ja, das verdanke ich François Mürner von DRS 3.
Wie ging das – ein Bildmedium übers Radio zu vermitteln?
Mürner sagte, ich hätte Personality. Er spürte meine Leidenschaft. Er selber war ein Spinner, ich auch. Mürner sagte, man müsse das einfach in eine Story verpacken. Ich habe dann Rollen gespielt. Mit meiner komödiantischen Seite glückte das.
Sie konnten sich landesweit einen Namen machen.
Ja, es gibt heute noch Menschen, die mich wegen der Stimme erkennen. Ich stand einmal im Lausanner Bahnhof an einem Stehtisch. Da kam ein Typ mit zwei Frauen. Wir plauderten miteinander über Gott und die Welt. Dann musste er auf den Zug.
Und dann?
Da sagte der Typ zu mir: «Jetzt muss ich dir etwas sagen: Du hast eine Stimme wie Cuno Comix.» «Aber ich bin Cuno Comix!», antwortete ich und sagte: «Ich weiss, das haben dir schon Hunderte gesagt, aber du siehst ein bisschen aus wie Büne Huber von Patent Ochsner.» Und er antwortete: «Ich bin Büne Huber!» Seither haben wir uns nicht mehr gesehen.
«Comic-Experte!» Das gibt Cuno Affolter nach der Matur als Berufswunsch an. 1958 im solothurnischen Trimbach zur Welt gekommen, setzt er von Kindesbeinen an alles daran, dieses Ziel zu erreichen. 1983 macht ihn Radio DRS 3 als «Cuno Comix» landesweit bekannt. 1999 vermacht er seine 40'000 Exponate umfassende Sammlung der Bibliothèque Municipale de Lausanne und baut dort als Konservator die zweitgrösste Comic-Sammlung Europas auf. Nun geht er in Pension und hinterlässt 300'000 Dokumente. Cuno Affolter lebt abwechslungsweise in Lausanne und in Zürich.
«Comic-Experte!» Das gibt Cuno Affolter nach der Matur als Berufswunsch an. 1958 im solothurnischen Trimbach zur Welt gekommen, setzt er von Kindesbeinen an alles daran, dieses Ziel zu erreichen. 1983 macht ihn Radio DRS 3 als «Cuno Comix» landesweit bekannt. 1999 vermacht er seine 40'000 Exponate umfassende Sammlung der Bibliothèque Municipale de Lausanne und baut dort als Konservator die zweitgrösste Comic-Sammlung Europas auf. Nun geht er in Pension und hinterlässt 300'000 Dokumente. Cuno Affolter lebt abwechslungsweise in Lausanne und in Zürich.