Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Doch dort, wo Apple liegen bleibt, wächst meist etwas Grosses in den Himmel. So geschehen 2007, als der US-Technologieriese das tragbare Telefon zu einem multifunktionalen Kleincomputer weiterentwickelte und als iPhone auf den Markt brachte – ein Quantensprung, der unser aller Leben bis heute umkrempelt.
Nun erkennt Apple-Manager Buddy Judge im Bereich Musik das nächste grosse Ding: den Raumklang. Wie schon beim Handy greifen die Hard- und Software-Entwickler aus Kalifornien auf Bestehendes zurück und geben ihm einen Kick: Seit Sommer 2021 bietet Apple Music auf seinem Streamingdienst Dolby Atmos an, das Surround-Sound-Format der Kinos.
«Als wären die Instrumente um dich herum»
«Alle Apple-Music-Abonnentinnen mit der neusten Version von Apple Music können Tausende Dolby-Atmos-Songs mit jeder Art von Kopfhörern hören», verspricht das Unternehmen seit Juli. Die Songs klingen dann so, «als wären die Instrumente um dich herum im ganzen Raum verteilt», heisst es vertrauensvoll weiter.
Wow! Wenn in Corona-Zeiten schon kaum Live-Events stattfinden, dann bietet Apple wenigstens das Konzert im Kopf. Aber wie soll das bitteschön funktionieren, denn wir haben ja bloss zwei Ohren? Ja, aber wie wir mit den beiden Augen dreidimensional sehen, so hören wir 3D, indem wir Unterschiede in Laufzeit und Intensität der Schallwellen wahrnehmen.
Da wir die Kopfhörer allerdings direkt aufs Ohr gedrückt bekommen, braucht es einen technischen Trick, um Raumklang zu simulieren. Ein Algorithmus berechnet die Daten neu und schafft so Musik, die im Raum verteilt scheint. Das funktioniert automatisch mit den Apple-Kopfhörern wie etwa den Airpods Max.
Die ersten Hörbeurteilungen des Computermagazins «Macwelt» sind wohlwollend. Bei der Richard-Strauss-Aufnahme «Also sprach Zarathustra» aus dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) urteilt der Kritiker: «Klingt auch mit guten Stereolautsprechern fein, mit Airpods Pro braucht man keine Wunder erwarten, aber gefühlt geraten wir ein wenig näher an die Pauken heran.»
Auch bei The Weeknd, St. Vincent und Billie Eilish seien Unterschiede zu hören, was die Breite und die Klarheit des Sounds betreffe. «Macwelt» erkennt aber Grenzen der Kopfhörer, «die ja Stereokopfhörer sind und kein 5.1.-System, bei dem die Musik teilweise von hinten kommen sollte und der Bass gewissermassen von überall».
Ein weiterer Versuch nach Kunstkopfstereofonie und Quadrophonie
Tatsächlich kommt Dolby Atmos erst mit fünf Boxen richtig zur Geltung – hinten, vorne, links und rechts im Raum verteilt, wobei zwei an der Decke hängen sollten, sowie irgendwo im Raum einen Subwoofer für die Basstöne, die Menschen mit ihrem Gehör nicht orten können. Diese 5.1.2-Verteilung ist die Mindestanforderung von Dolby Atmos.
Die Pixarproduktion «Brave» ist der erste Film, der 2012 mit Dolby Atmos in die Kinos kommt. Im Gegensatz zu anderen Surround-Sound-Systemen ist dabei der Klang nicht mehr für einzelne Kanäle abgemischt, sondern entsteht als sogenanntes Objekt im Raum. Wenig später wenden Toningenieure diese Technik auch für Musikaufnahmen an.
Ein «Schlüsselerlebnis» sind für Yello-Soundtüftler Boris Blank (69) die Aufnahmen mit Dolby Atmos fürs Album «Point» (2020); der Zürcher sieht darin einen «Meilenstein» und die «Zukunft». Verständlich, denn gerade in der elektronischen Musik lassen sich die Töne damit durch den Raum jagen – ein wahres Gaudi!
Wie viel Spass der neue Soundgenuss den Musikkonsumentinnen und -konsumenten macht, bleibt allerdings abzuwarten. Mit der Kunstkopfstereofonie, der Quadrophonie und der Ambiophonie gab es Ende der 1960er- bis Anfang der 1980er-Jahre schon mehrere Versuche, dem Raumklang zum Durchbruch zu verhelfen – ohne Erfolg.
Die teure Anschaffung einer ganzen Boxen-Armada samt Kabelsalat dürfte manchen Klang-Connaisseur auch bei Dolby Atmos abschrecken, zumal mit den Bluetooth-Lautsprechern in den letzten Jahren der Trend in die andere Richtung hin zu einer einzigen portablen Box ging. Es bleibt also fraglich, ob in Zukunft viele in den nun von Apple protegierten sauren Apfel beissen wollen.