Als Journalistin ist man nicht oft in der Situation, dass einem die Worte fehlen. Auch ein Blick in den Notizblock hilft nicht weiter: Drei Seiten streckenweise komplett unleserliche Notizen, und dabei kein einziger Gedanke, sind beim Ansehen der Pressevorschau des neuen Programms «Reception» von Karl's kühne Gassenschau zusammengekommen. Nicht, weil es sich nichts zu überlegen gäbe. Sondern weil die Handlung derart rasant ist, dass einem der Kiefer offen stehen bleibt und man mit dem Mitschreiben kaum nachkommt.
Deshalb ist es vielleicht gut, mit dem Ende anzufangen. Und zwar mit der geschlossenen stehenden Ovation, die die versammelte Presse am Schluss den Schauspielern gibt. Auch das ist eine Situation, in der man sich als Journalistin nicht oft wiederfindet. Aber die Akrobatik, Explosionen, Tauchgänge, der Gesang und die Tanzchoreografien, unterstützt von einer Liveband und einer schlicht unglaublichen Bühnengestaltung und -technik, die eigentlich fast schon ein eigener Charakter ist – nun, es überwältigt einen und lässt einen ziemlich sprachlos zurück. Im besten Sinn: Was da alles durch die Luft fliegt, kracht, im Wasser versinkt, wieder auftaucht, auseinanderbricht, sich neu zusammensetzt oder eben auch nicht – es ist spektakulär – und man soll auf Wunsch der Leitung bitte nicht allzu viel verraten.
Mit dem Ende anzufangen, ist auch deshalb naheliegend, weil es sich beim aktuellen Programm um die letzte «kühne Gassenschau» der beiden Gründungsmitglieder und Direktoren Brigitt Maag (63) und Paul Weilenmann (65) handelt. Für «Reception» haben sie die künstlerische Leitung mit Max Merker (48) und Matthias Schoch (38) erweitert, welche die nächste Produktion dann ganz übernehmen.
Um Abschiede geht es denn auch im aktuellen Stück, das wird schon in der ersten Szene klar, obwohl es sich eigentlich um eine Ankunft handelt: Eine Hochzeitsgesellschaft reist in einem Boot zu einem Traumhotel, mitten auf einem, eigens für die Produktion fünf Meter tief ausgebaggerten See. Im Boot: das Brautpaar, die beste Freundin der Braut, der Trauzeuge, der Vater der Braut, die Hochzeitsplanerin Evelyn Glanzmann und die überkandidelte Partycrasherin Sandy.
Plötzlich scheinen Naturgesetze nicht mehr zu gelten
Dass das nicht auf eine Komödie hinauslaufen wird, zeigt die Figur des mit dunklem Umhang und Kapuze gekleideten Fährmanns. Wer sich etwas in Mythologie und Literatur auskennt, ahnt, was kommen wird – der Fluss Styx, der das Totenreich vom Reich der Lebenden trennt, kommt einem in den Sinn oder Tolkiens Graue Anfurten, von denen so einige Charaktere abreisen werden, um nie mehr zurückzukommen. Oder, um die Mythologie zu verlassen und in der Realität zu landen, das Mittelmeer und die vielen Flüchtlinge, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben für immer Abschied nehmen, dieses bessere Leben vielleicht manchmal erreichen oder aber auch mit ihrem Leben bezahlen. Oder, nur etwa 150 Jahre her, die vielen Schweizer, die, um dem Hungertod zu entfliehen, sich im Grotto Americano im Tessin besammelten, um die grosse Überfahrt nach Amerika zu wagen und auf dem Weg reihenweise an Typhus oder Hunger zu sterben. Der Fluss und sein Fährmann vereinen so gleich mehrere metaphorische Bilder: Neuanfänge, Hoffnung, Aufbruch, aber auch Abschiede, teilweise für immer.
Zunächst kommt aber die Gesellschaft im Traumhotel an, wo ein nur vordergründig tattriger Butler und der zwischen freundlich-servil-abgründig genauso wie zwischen Berndeutsch, Österreichisch und diversen anderen Akzenten oszillierende Rezeptionist die Gäste in Empfang nehmen. Dass etwas im Traumhotel nicht ganz stimmt, wird schnell klar. Kleine, klamaukige Einlagen – die Braut steht dauernd auf ihr Kleid, einer auf dem Foto hat stets die Augen geschlossen, der Trauzeuge verschusselt die Ringe, Partycrasherin Sandy versucht stets dem wachsamen Auge der Hochzeitsplanerin Frau Glanzmann auszuweichen – werden bald ernster: Die liebeskummerkranke italienische Sängerin geht ständig ins Wasser, wird gerettet, um erneut ins Wasser zu gehen und lehnt sich schliesslich vergeblich gegen ihr Schicksal auf, und für den Rezeptionisten scheinen Naturgesetze wie die Gravität nicht zu gelten.
Man kommt aus dem verblüfften Staunen nicht mehr heraus
So viel sei an dieser Stelle verraten, viel mehr nicht. Denn zu viel zu lesen könnte verderben, was man eigentlich mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören sollte. Man sollte übrigens auch mit eigener Nase das Benzin riechen, das in einigen der Stunts zum Einsatz kommt.
Zum Sehen und Hören lässt sich aber immerhin noch etwas sagen: Auf der Bühne steht eine Liveband. Auch die Musik ist eine Art Charakter in der Show, ein Charakter, der gleich mehrere Funktionen übernimmt. Sie illustriert und kommentiert die Handlung, nimmt einen ein und schafft manchmal zugleich eine Art Distanz: Sie treibt das rasante Treiben auf dem See – in dem das Hotel vom Mittelklasse-Traumparadies mit Whirlpool zu einer uneinnehmbaren Festung, zu einer Art Hölle, zu einem unerreichbaren, magisch anmutenden Zufluchtsort, zu einem Katastrophenschauplatz und vielem mehr wird – beschwingt vor sich her. Sie schafft so im Zusammenspiel mit der sich stets wandelnden Kulisse Momente von ungemeiner poetischer Kraft.
Kurzum: Man staunt. Man lacht. Man weint. Und man ist traurig, dass man nicht sämtliche 23 Produktionen der Regisseure Maag und Weilenmann gesehen hat und von deren Arbeit nun Abschied nehmen muss. Nimmt man ihr Programm zum Massstab, muss ihnen das Herz dabei schwer sein. Man kann den herzzerbrechend schön und traurig inszenierten Abschied des Vaters, der sich fremd fühlt, während die Hochzeitsgesellschaft weitertanzt und dabei immer seltsamer wird, man kann seinen schliesslichen Untergang, während andere davonfliegen, auch als Metapher für ihre Zeit in Karl's kühne Gassenschau lesen.
Karl's kühne Gassenschau: «Reception», Vorpremiere am 13. Juni, Premiere am 14. Juni, Niderfeld, Dietikon ZH
Sämtliche Vorstellungen für 2024 sind bereits ausverkauft, die Show wurde bereits bis in den Juni 2025 verlängert. Tickets gibt es hier: www.karlskuehnegassenschau.ch