Jris Carducci (56) nimmt ein aus Zeitungspapier und Kleister gebasteltes Tier auf den Arm. «Das ist unser Maskottchen, ein Grossflugbeutler aus Australien. Sein Fell wird rechtzeitig am Samstag fertig sein», sagt sie und streicht dem Vierbeiner über das flauschige Ohr. «Jöö, das ist wirklich herzig!», sagt Ubah Hassan (19), die neben Carducci auf der Rentenwiese am Zürcher Seebecken auf einem gemusterten Tuch sitzt.
Beide Frauen gehen diesen Samstag an die Street Parade. Für Hassan ist es das erste Mal. Carducci ist seit 1993 jedes Jahr dabei. Sie organisiert zum vierten Mal die Generations Stage bei der Rentenanstalt. «Meine Idee dahinter ist es, alle Menschen zusammenzubringen. Unabhängig vom Geschlecht und der sexuellen Orientierung, egal ob jung oder alt oder von einer Behinderung betroffen – bei uns tanzen von der Grossmutter bis zu den Enkelkindern alle gemeinsam», sagt sie. Und an Hassan gewandt: «Komm auch!» Die 19-Jährige nickt zustimmend, und dann tauschen die Frauen ihre Handynummern aus.
Tipps von der Routine-Raverin
Hassans Neugier vor ihrer ersten Street Parade ist gross. «Es nimmt mich mega wunder, wie es sein wird», sagt sie. Bei der letzten Street Parade 2019 sei sie noch zu jung gewesen. Ausserdem habe sie Berichte über Drogen und kollabierte Leute gelesen. «Als 16-Jährige hat mir das Angst gemacht. Inzwischen bin ich reifer und weiss, wie ich mich schützen kann», sagt sie.
Die Gefahr, dass ihr jemand etwas in den Drink schütten könnte, bestehe allerdings immer. Carducci erwidert: «Bring deine eigene, verschliessbare Flasche mit. Dann kannst du deinen Drink dort hineinfüllen und musst nicht dauernd darauf aufpassen.» Wie die meisten Kollegen aus ihrem Umfeld geht auch Hassan erst am Abend zusammen mit einer Freundin an die Street Parade. Carducci sagt: «Dann rate ich dir, nicht in der Mitte, sondern eher am Rand zu laufen. Dort ist es weniger eng – vor allem auf den Brücken.»
Ein Bändeli für die schönen WCs
Hassan bedankt sich für den Tipp und fragt, ob Carducci ihr noch einen weiteren Ratschlag habe. «Ja! Dieses Jahr gibt es für zehn Franken Bändeli, mit denen man die schöneren WCs benutzen kann. Die werden regelmässig gereinigt. Bei den Toi-Tois stehst du bis zu 20 Minuten an, und dann sind sie meistens nicht sauber», sagt sie.
«Und woher bekomme ich ein solches Bändeli?», fragt Hassen. «In der Nähe der WCs gibt es Personen, die dich fragen, ob du eines kaufen möchtest», sagt Carducci.
Trotz gewisser Bedenken, was die grosse Menschenmenge angeht, überwiegt bei Hassan das positive Gefühl. «Ich freue mich auf tolle Gespräche mit coolen Leuten und einen guten Vibe», sagt sie. «Das ist geblieben», antwortet Carducci. «Die Begeisterung der Besucherinnen und Veranstalter hat sich über all die Jahre nicht verändert.»
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«Ich bin immer dabei»
Für Carducci ist die Street Parade DAS Highlight des Jahres. Sie plant ihre Ferien, Ausflüge und Termine so, dass diese der grössten Techno-Party der Welt inklusive Vorbereitungsphase nicht in die Quere kommen. «Ich bin immer dabei», sagt sie. «An der allerersten Street Parade im Jahr 1992 war ich am Aufbau der ‹Energy› beteiligt – einer Techno-Veranstaltung, welche die Street Parade vom Hechtplatz aus via Radio übertragen hat. Das hat mich so fasziniert, dass ich am liebsten selbst hingegangen wäre.»
Ein Jahr später war Carducci nicht nur als Besucherin an der Street Parade, sondern sie hatte bereits ein Love Mobile. «Ich habe alles in Bewegung gesetzt, damit das klappt», sagt sie. Es folgten 17 weitere fahrende Dancefloors, die sie häufig zusammen mit Kollegen organisiert hat. Später, als die Love Mobiles immer teurer wurden, musste Carducci mit Clubs zusammenarbeiten.
«Am Anfang hat man für ein Mobile etwa 600 Franken bezahlt, mittlerweile kosten sie zwischen 15'000 und 40'000 Franken», sagt sie. «Die Dimension der Street Parade hat sich über die Jahre stark verändert.»
Vom kauzigen Day-Rave zum Mega-Event
1992 versammelten sich rund 1000 Techno-Begeisterte in Zürich, um via Limmatquai und Bahnhofstrasse durch die Stadt zu raven. Ein Jahr später waren es bereits 10'000 Leute. 1996 zählte die Street Parade 350'000 Besucherinnen und Besucher, und inzwischen strömen jeweils eine Million Menschen aus der ganzen Welt an einem Tag im August nach Zürich. Der kauzige Day-Rave hat sich zu einem Mega-Event entwickelt.
«Manche, die von Beginn an dabei sind, kritisieren, dass die Street Parade heutzutage kommerziell ist», sagt Carducci. Sie hingegen empfindet das überhaupt nicht als Nachteil: «Unser Traum war es, dass alle diese Musik hören – und das haben wir erreicht. Das macht mich glücklich.»