Als ihm der Wärter kurz vor Ostern 1981 das Frühstück in die Zelle bringen will, ist der Häftling längst über alle Berge. Dafür liegt ein Zettel auf dem Bett: «Bin beim Ostereiersuchen.» Walter Stürm war geflohen. Schon wieder.
Insgesamt acht Mal gelang dem berühmtesten Ein- und Ausbrecher der Schweiz die Flucht. Die Abenteuer Walter Stürms (1942–1999) waren in aller Munde, er selbst wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren zur politischen Ikone stilisiert. Nun bringt der neue Film «Stürm – bis wir tot sind oder frei» den Ausbrecherkönig zurück in die breite Öffentlichkeit. Doch was fasziniert uns eigentlich so an Verbrechern, während wir ihre Taten generell nicht gutheissen?
Vom Gauner zum Gentleman
Ob George Clooney als gerissener Ganove in «Ocean’s Eleven», das Verbrecherduo Bonnie und Clyde, der Drogenbaron Pablo Escobar in der Netflix-Serie «Narcos» oder die Räuber in «Haus des Geldes»: Wir haben schon immer gerne einen Abstecher auf die Schattenseite gemacht und uns – zumindest auf der Leinwand – mit dem «Bösen» identifiziert.
Walter Stürm wurde bereits zu seinen Lebzeiten zu einer Art Volksheld stilisiert, dessen Ungehorsam den Staat herausforderte. «Die Linke erhob Stürm zu ihrer Symbolfigur im Kampf für bessere Justizbedingungen», sagt Reto Kohler, Autor der Stürm-Biografie. Diese Rolle spielte Stürm gern: Unablässig habe er darüber gejammert, wie schlecht es ihm im Gefängnis gehe. «Er nutzte seinen Ruhm, um die eigenen Haftbedingungen zu verbessern. Die eigentlichen Anliegen der Linken waren ihm jedoch komplett egal», so Kohler.
So habe Stürm notorisch gelogen und alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war, sagt Kohler. Ihn persönlich fasziniere die komplette Schamlosigkeit Stürms. Bereits Stunden nach einer Flucht habe er bereits die nächsten Straftaten begangen. «Heute würde man bei ihm wohl eine narzisstische Störung diagnostizieren», so Kohler. «Dass sein Ruf eines Freiheitskämpfers insgesamt etwa dreissig Jahre anhalten konnte, ist für mich heute absolut unverständlich.»
Das Rezept zum erfolgreichen Film-Bösewicht
Dass wir mit Straftätern wie Stürm sympathisieren, ist nur möglich, wenn spezielle Umstände zusammentreffen, sagt Filmwissenschaftler Simon Spiegel (44). «In Film und Literatur werden nur wenige Arten von Verbrechern zu Helden.» So komme es zum Beispiel nur selten vor, dass wir Sexualstraftäter oder Raubmörder positiv darstellen.
Damit die Geschichte des beliebten Bösewichts Erfolg hat, sind gemäss Spiegel ausserdem zwei wichtige Faktoren zentral. Erstens, dass die Straftaten durch die Umstände relativiert werden: zum Beispiel, wenn die Verbrecher Leute bestehlen, die noch viel böser sind als sie selber. Oder wenn den Kriminellen gesellschaftliches Unrecht widerfahren ist – also das Modell von Bonnie und Clyde. «Die Protagonisten begehen dann zwar zweifellos Straftaten», sagt Spiegel. «Aber sie tun es nur, weil sie in einer durch und durch ungerechten Gesellschaft leben.»
Faktor Nummer zwei sei der Spass: Generell würden wir gerne dabei zuschauen, wenn jemand vermeintlich einbruchsichere Anlagen oder Systeme austrickse und die Menschen zum Narren halte, sagt Spiegel. «Schliesslich haben sich die meisten von uns schon einmal überlegt, wie man es wohl anstellen müsste, eine Bank oder ein Juweliergeschäft auszurauben – ohne es in die Realität umzusetzen.» Bei Stürm träfen beide Faktoren zusammen, sagt Spiegel. «Einerseits wurde er zum Robin Hood stilisiert, der gegen das System kämpft. Gleichzeitig gelang es ihm immer wieder stets von neuem, die Leute auszutricksen.»
Wir wollen ausbrechen
Ein anderer, der den Rummel um den Ausbrecherkönig am eigenen Leib erfahren hat, ist Oliver Rihs (49), Regisseur der Stürm-Verfilmung. Ihm gefiel damals, wie es schlicht unmöglich schien, Stürm einzusperren. «Stürm stammte aus wohlhabendem Elternhaus und rebellierte mit den Straftaten wohl gegen seinen dominanten Vater», sagt Rihs. «Damit konnte ich mich als Jugendlicher identifizieren.» Schliesslich schlummere doch in uns allen die Sehnsucht, einmal völlig auszubrechen. Und mit dieser Sehnsucht spielen viele Filme und Genres, sagt der Regisseur.
Bei Stürm komme noch zusätzlich der lokale Faktor hinzu. In der Schweiz erinnern sich viele Leute an ihn oder haben gar eine direkte Verbindung zu ihm, weil Stürm zum Beispiel einmal ihre Tante überfallen hat, so Rihs. «Vielleicht konnten sie sich als Schweizerinnen und Schweizer auch so gut mit ihm identifizieren, weil er eigentlich ein ziemlicher Spiesser war.» Statt Alkohol habe er Coca-Cola getrunken und am liebsten Älplermagronen gegessen. In seinem Film will Rihs den Straftäter entmystifiziert darstellen: «Wir zeigen Stürm nicht als glorreichen Freiheitshelden. Sondern als einsame, rastlose und eigentlich tragische Persönlichkeit.»