Krieg in der Ukraine, Hunger in Afrika, Armut durch Inflation
Warum wir trotzdem mit gutem Gewissen feiern sollten

Krieg, Flucht, Armut: Die Welt steckt in der Krise. Mittendrin feiern wir Weihnachten. Ist das angebracht? Wir haben eine Ethikerin und einen Ethiker gefragt.
Publiziert: 19.12.2022 um 08:21 Uhr
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Aktualisiert: 19.12.2022 um 10:37 Uhr
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Unter warmen Lichtern unbeschwert über den Weihnachtsmarkt schlendern: Die Welt steckt in der Krise, doch wir feiern Weihnachten. Ist das angebracht?
Foto: IMAGO/Sylvio Dittrich
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Die Nacht riecht nach Zimt und Raclette. Weihnachtslichter funkeln, ausgelassen stossen Menschen auf dem Weihnachtsmarkt mit Glühwein an. In ihren Jackentaschen summt das Smartphone: Bomben explodieren in der Ukraine. In Ostafrika wütet die schlimmste Hungerkrise seit 40 Jahren. Und wir haben eine Klima- und Wirtschaftskrise. In nur drei Monaten hat die Inflation 71 Millionen Menschen in die Armut abrutschen lassen.

Wie sollen wir in solchen Zeiten Weihnachten feiern? Dürfen wir das Leid der Welt einfach ausblenden, uns einen Advent lang in wohlig warme Watte packen und Weihnachtslieder grölen, Guetzli backen, uns auf viele Geschenke sowie deftigen Weihnachtsschmaus freuen?

«Advent und Weihnachten sind Zeiten der Hoffnung und des Friedens», sagt der Ethiker Markus Zimmermann (60), Professor an Universität Freiburg. Eine Zeit, die uns zeige, dass wir nicht alleine sind – aller Widrigkeiten zum Trotz. «Wenn wir Weihnachten nicht mehr feiern, wären wir als Menschheit noch viel ärmer dran, als wir das aufgrund sinnloser Kriege und Leid ohnehin sind.»

Türen öffnen und Ideale überdenken

Ruth Baumann-Hölzle (65), Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen, erinnert an den Kern dieser Feiertage: die Weihnachtsgeschichte. In der säkularen Welt gerate sie immer mehr in Vergessenheit. Das entstandene Vakuum von fehlenden Sinnerzählungen werde mit Konsum und Reisen in ferne Länder über die Weihnachtstage gefüllt. Dabei zeige uns die Weihnachtsgeschichte, was es bedeute, wenn Menschen in Not an Türen klopfen und diese verschlossen bleiben. «Sie erinnert uns an unsere Verantwortung gegenüber schutzbedürftigen Menschen – und könnte somit nicht aktueller sein.»

Der geschmückte Baum im Wohnzimmer, ein reich gedeckter Esstisch: Die meisten Schweizerinnen und Schweizern feiern Weihnachten im kleinsten Rahmen. Eine Tradition, die man in Krisenzeiten wie diesen und auch generell überdenken könne, merkt Baumann-Hölzle an. «Weihnachten ist mit offenen Türen und Herzen zu feiern.»

Sowieso: Das Ideal der besinnlichen und friedvollen Weihnachtszeit erzeuge auch Druck. Baumann-Hölzle sagt: «In der emotionalen und nahen Weihnachtszeit kommt es häufig zu familiären Konflikten.» Das kann schmerzhaft sein. Doch auch eine Chance, sich mit unseren Beziehungen auseinanderzusetzen und zu klären, wie wir sie neu gestalten wollen. «Wir sind nicht perfekt. Sich dies bewusst zu machen, öffnet Raum für Verzeihen, Grenzziehung und Neuanfänge.»

Ein Fest der Menschlichkeit – auch abseits der Religion

Zimmermann wertet es als Zeichen des Glücks und der Befreiung, dass junge, gesunde und intelligente Menschen auf der hell erleuchteten Bahnhofstrasse Weihnachtsgeschenke kaufen und es sich bei Glühwein gut gehen lassen. Auch abseits der Religion. «Es wäre schön, viel mehr Menschen könnten dieses Glück erleben – ob in der Ukraine, dem Jemen, in Äthiopien, Nordsyrien, um nur einige wenige Kriegsschauplätze zu nennen.»

Denn auch ohne religiösen Gedanken habe Weihnachten einen tieferen Sinn: Es stiftet Gemeinschaft, Freude, gegenseitige Aufmerksamkeit und ein wenig Ruhe in den hektischen Zeiten. Der Ethiker sagt: «Weihnachten ist ein Fest der Menschlichkeit.» Unabhängig davon, ob man religiös ist oder welcher Religion man angehört. Und genau deshalb sollten wir es ohne schlechtes Gewissen feiern – allem Krieg und Leid zum Trotz.

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