Der Berg ruft – und seit Corona hallt seine Stimme bis ins Flachland. Seitdem das Arbeiten von zu Hause aus Pflicht ist, träumen viele Städter erst recht von einem Tapetenwechsel.
Schon ist von einer Landflucht die Rede, vom Bergdorf als Kreativ-Hub und der Stadt als Ort, den man aufsucht, um mal wieder weniger Kühe und mehr Menschen zu sehen. Möglich wäre dieses Szenario. Das Breitband-Internet im Engadin kann es mit dem von Zürich, Basel und Bern aufnehmen. Und: Viele Schweizerinnen und Schweizer haben gelernt, wie gut sich die meisten physischen Treffen mit Hilfe von Zoom und Co. ersetzen lassen, solange die Verbindung mitmacht.
Wird uns die Klimaerwärmung in die Berge treiben?
Utopisch gedacht könnte das bedeuten, dass Schweizer Städter eines Tages im Sommer aufgrund hoher Temperaturen in Ferienorte in der Höhe übersiedeln. Vergleichbar mit den gut betuchten New Yorkern, die im Winter vor der Kälte nach Miami flüchten.
Die Bergregionen würde es freuen. Sie tun schon jetzt alles, um eine neue Zielgruppe zu erreichen: Menschen, denen die Decke auf den Kopf zu fallen droht. Selbst Hotels in 700-Seelen-Dörfern wie Bürchen VS werben mit Slogans wie: «Arbeiten in der wunderschönen Oberwalliser Bergwelt inklusive Freeflow-Kaffee und WiFi.» Pascal Jenny, Kurdirektor von Arosa und Lenzerheide GR, sagte gegenüber der «Aargauer Zeitung», er glaube, dass Homeoffice mittelfristig 10 bis 15 Prozent zur gesamten Wertschätzung beitragen könnte.
Für Annina Coradi (36), die uns über ihr Leben als «Digital Nomad» Auskunft gab, sind neue Arbeitsformen nichts Neues. Ihr Büro ist dort, wo sie ihren Laptop einstecken kann. Den aktuellen «Lockdown light» verbringt die Stadtzürcherin in ihrer kleinen Wohnung in Pontresina GR. 2015 initiierte die Innovationsexpertin mit Kollegen einen Co-Working-Space in Zermatt VS. Heute steht in jedem Bergort, der etwas auf sich hält, eine solche Bürogemeinschaft. Digitale Nomaden können dort für einen Tag ihr «Büro» einrichten und sich mit ihresgleichen austauschen.
Das Engadin ist ein Treffpunkt für digitale Nomaden
Gerade entwickelt Coradi ein Begegnungs- und Innovationszentrum am Inn in La Punt GR. Auftraggeber ist Mia Engiadina. Die Projektgemeinschaft treibt seit Jahren die Digitalisierung im Engadin voran. Deshalb ist das Tal einer der Orte, der jetzt am meisten «Heimarbeiter» anzieht.
Finanzberater Reto Baruffol (56) kennt das Homeoffice-Dasein erst seit Corona. Der Zürcher sieht in der neuen Arbeitsform eine Chance für sein geliebtes Davos. Als Vorstandsmitglied des Vereins der dortigen Zweitwohnungsbesitzer setzt er sich für die Entwicklung rund um sein Feriendomizil ein. Dazu gehört das Bestreben, den viel diskutierten kalten Betten in den Wintersportorten entgegenzuwirken.
Den Angehörigen der Babyboomer-Generation – Baruffol selbst gehört zu ihnen – möchte er das Homeoffice in den Bergen schmackhaft machen. «Sie befinden sich in der letzten Phase ihrer Karriere und können sich jetzt schon einmal mit einem steuerlich attraktiven Ort vertraut machen, an dem sie später – hoffe ich – ihre Pensionierung verbringen wollen.»
Für Schweizerinnen und Schweizer, die beruflich oder aus familiären Gründen an einen Ort gebunden sind, mögen sich die Gedankenexperimente von flexiblen Berufscracks zynisch anhören. Auch finanziell muss man sich Nomadentum erst mal leisten können. Wer seinen Alltag jetzt im eingenebelten Unterland im Homeoffice verbringt und keine Möglichkeit hat, abzuhauen, für den bleiben die Berge auch in Zukunft ein Sehnsuchtsort. Aber nicht um zu arbeiten, sondern für Ferien.
Annina Coradi: «Ich hoffe, dass Corona Stadt und Land zusammenschweisst»
Innovationsexpertin Annina Coradi stammt aus der Stadt Zürich – im Moment arbeitet sie in einer kleinen Wohnung in Pontresina. Ihre Arbeitszeiten bestimmen die Temperaturen und das Wetter in der Natur.
Wer Annina Coradi verstehen will, wenn sie über ihre Tätigkeitsfelder und ihr Leben spricht, muss Englisch können. In ihrer Welt spricht man von «progress» anstelle von Fortschritt, man will die Natur als Kreativ-Ort «pushen», arbeitet in «work sessions» und hat eine kosmopolitische Denkweise: ein «cosmopolitan mindset».
Die 36-jährige Innovationsexpertin aus dem Zürcher Kreis 4 führt unter anderem ein Start-up, das Firmen in Zusammenhang mit «New Work» berät. Wie werden wir in Zukunft arbeiten? An welchen Orten? In welchen Räumen? Das sind Fragen, mit denen sich ihre Disziplin beschäftigt. Coradi promovierte an der ETH in Technologie- und Innovationsmanagement. In ihrer Doktorarbeit befasste sie sich mit der Frage, wie sich Architektur auf die Kreativität auswirkt.
Im Video-Interview trägt Coradi eine Wollmütze, ein weisses T-Shirt und eine Brille mit durchsichtigem Rahmen. «Mein Homeoffice ist saisonal bestimmt», sagt sie. Jetzt, im Hochwinter, könne sie dank ihrer kleinen Wohnung in Pontresina die verschneite Landschaft des Engadins geniessen. Ihre Arbeitszeit richtet sich nach den Temperaturen und dem Wetter. «Am Morgen ist es eiskalt draussen – ich beginne früh mit der Arbeit.» Wenn sich am Mittag die Sonne zeigt, geht sie langlaufen und nimmt es am Nachmittag gemütlich. «Dafür arbeite ich auch mal bis in die Nacht. Oder grabe mich bei schlechtem Wetter mit meinen Projekten ein.»
Vor dem Lockdown war ihr Office ein halbes Jahr in Neuseeland stationiert. Dort hat die erfahrene Bergsteigerin den Mount Aspiring bestiegen, das «Matterhorn Neuseelands». Arbeit und Freizeit verschmelzen bei ihr. «Ich weiss oft gar nicht, was für ein Wochentag gerade ist.»
Coradi hofft, dass Corona Stadt und Land in der Schweiz zusammenschweisst. Nicht zuletzt weil das Menschen, die neue Arbeits- und Lebensmodelle suchen, zugutekäme. Die Bevölkerung in urban und rural zu kategorisieren – das habe sie schon vor Corona als ein Auslaufmodell empfunden. Wenn sie nach einer Woche im 2000-Seelen-Dorf Pontresina wieder im lebendigen, multikulturellen Kreis 4 ankommt, geniesst sie das genauso, wie wenn sie wieder in die Berge zurückkehre. Die Überschneidung von Arbeit und Freizeit mache es manchmal schwierig, Grenzen zu setzen. «Die Natur hilft mir, abzuschalten. Hier oben atme ich kristallklare Luft und habe Raum zum Denken.»
Reto Baruffol: «Meinen Bart lasse ich nur in Davos stutzen»
Reto Baruffol arbeitet seit dem ersten Lockdown im Homeoffice in seiner Ferienwohnung in Davos GR. Vor Corona war der Anlageberater die ganze Zeit am Reisen. Wenn er im Moment unterwegs ist, knirscht unter seinen Füssen der Schnee.
Wir sprechen mit ihm über den Kanal, mit dem er seit neun Monaten mit Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt ist: Video. Reto Baruffol, Anlageberater für eine amerikanische Firma mit einer Niederlassung beim Zürcher Paradeplatz, sitzt im Büro seiner Ferienwohnung am Davosersee. Im Hintergrund hängt ein Bild der alten Talstation der Parsennbahn, auf einem Sideboard stehen goldene Figürchen in Form von Hirschen, auf dem Sofa im Hintergrund liegt ein Lammfell. Alpine Chic nennt man diesen Stil. Der 56-Jährige trägt ein rotes Polo-Shirt und einen Bart. «Den habe ich mir aber nicht erst seit dem Lockdown wachsen lassen.»
Seit in der Schweiz Mitte März die ausserordentliche Lage ausgerufen wurde, arbeitet Baruffol die meiste Zeit im Homeoffice in den Bergen. Manchmal stösst seine Frau, Gemeinderätin von Kilchberg ZH, für ein paar Tage hinzu oder «die Jungmannschaft», wie er seine drei Kinder nennt. Er hat zwei Töchter und einen Sohn, die sich in Ausbildung befinden. «Im Sommer haben sie hier ihre Lerngrüppchen gehabt. In der Freizeit gingen sie baden. Jetzt, im Winter, spielen sie Hockey.»
Bis vor Ausbruch der Pandemie flog Baruffol, der in Kilchberg ZH aufwuchs, wöchentlich nach London oder Frankfurt. Regelmässig auch nach Chicago. Seine Reisetätigkeit habe sehr viel Zeit in Anspruch genommen, die er nicht immer sinnvoll nutzen konnte. «Heute sitze ich zum Teil schon um 7 Uhr morgens im Homeoffice und bin produktiv. Ich arbeite viel mehr als vorher und bin trotzdem entspannter.»
Warum? «Weil ich ungestört bin und mitten in der Natur stehe, sobald ich das Haus verlasse.» Im Sommer packte er über Mittag ein Picknick in den Rucksack, das er auf der Alp verzehrte, oder grillierte abends mit anderen Städtern, die sich im Homeoffice-Exil befanden. Im Winter stehen in den Pausen Spaziergänge mit dem Hund an, einem Australischen Labradoodle namens Shelby.
Wenn es um die Infrastruktur in Davos geht, die nicht zuletzt dem WEF zu verdanken ist, wirkt Baruffol wie ein PR-Verantwortlicher des Tourismusbüros: Er habe hier das schnellere Breitband-Internet als seine Kollegen in der Londoner City, gehe beim besten Metzger einkaufen, den man sich vorstellen könne. Der chinesische Take-away sei top, und das Brot, das er beim Bäcker holt, habe Preise gewonnen.
Ganz aufs urbane Leben zu verzichten, das kann sich Baruffol aber nicht vorstellen. Bestehende Beziehungen aufrechtzuerhalten, das sei über digitale Kanäle aus dem Homeoffice in den Bergen heraus möglich. Doch um neue aufzubauen oder eine Beziehung richtig zu pflegen, müsse man sich ab und zu physisch treffen. «Dafür bietet sich die Stadt an.» Er könnte sich gut vorstellen, nach Corona zu einem Hybrid-Modell überzugehen: einige Tage in Zürich im Grossraum-, einige Tage in Davos im Heimbüro. «Meinen Bart werde ich aber nach wie vor hier oben im Barber-Shop stutzen lassen.»
Jill Oppliger: «Seit Corona sehe ich meine Eltern wieder öfter»
Jill Oppliger (38) ist virtuelle Assistentin. Vor Ausbruch der Pandemie war ihr Homeoffice mal in Bali, mal in Lettland stationiert, jetzt arbeitet sie bei ihren Eltern in Graubünden. Ihr Vater hilft ihr bei den Erklärvideos, die sie anfertigen muss.
Dass Jill Oppliger vor Corona vorübergehend auf Bali und Ibiza arbeitete, ist nachvollziehbar. Aber zehn Tage im lettischen Riga – wird das nicht langweilig? «Ich war ja nicht dort, um Ferien zu machen», sagt sie und lacht. Dass sie, um zu arbeiten, regelmässig ihre Heimbasis in Greifensee ZH weit hinter sich liess, hatte auch Kostengründe. «Schon allein Essen, Freizeit – all die Dinge, die man neben dem Job macht – sind in der Schweiz nun einmal sehr teuer.»
Oppliger hat einen kaufmännischen Hintergrund und einen eidgenössischen Fachausweis als Direktionsassistentin. Seit Februar 2019 ist sie als virtuelle Assistentin tätig. Das heisst: Sie macht alles, was eine «normale» Assistentin auch macht, einfach nicht vor Ort in einem Büro und nicht nur für einen Arbeitgeber, sondern für mehrere. Wenn jemand sie braucht, wird Oppliger für spezifische Aufgaben engagiert.
Virtuelle Assistenten seien in den USA sehr verbreitet, sagt sie. Auch in der Schweiz würden immer mehr KMU ihre Dienste in Anspruch nehmen, weil sie sich keine fixe Assistenten mehr leisten wollen. Jetzt, wo wegen Corona alle plötzlich merken würden, wie gut Kommunikation via Video-Chat funktioniere, steige bei ihr die Nachfrage. «Gleichzeitig ist es vielen Kunden seit Ausbruch der Pandemie-Zeiten wieder wichtiger, mich ab und zu auch persönlich zu treffen, sofern es die Umstände zulassen.»
Ja, das Reisen vermisse sie sehr, sagt Oppliger. Dafür hatte Corina den positiven Effekt, dass sie ihre Eltern wieder öfters sieht. Mutter und Vater wohnen 40 Autominuten voneinander entfernt in Churwalden GR in der Region Lenzerheide und in Langwies bei Arosa. Ihre Tochter pendelt zwischen den beiden Bündner Ortschaften hin und her. Oppligers Freund ist Servicetechniker und arbeitet schweizweit – ihr Lebensstil lässt sich gut mit seinem vereinen.
Als wir sie per Video-Chat erreichen, sitzt Oppliger gerade im Homeoffice, einem Arvenstübli im Haus ihres Vaters, und kann durchs Fenster das Erzhorn betrachten. Er war vor seiner Pensionierung als Regisseur und Drehbuchautor tätig und hilft seiner Tochter, wenn sie für ihren Job Erklärvideos aufnehmen muss. Das macht sie nach neun Uhr abends, wenn es in Langwies mucksmäuschenstill ist.
In Greifensee wohnt sie in einem siebenstöckigen Block genau in der Mitte. «Es ist ein altes Gebäude – ich kriege von oben und unten viel mit und höre im Treppenhaus den Lift rumpeln.» Vor ihrem Balkon liegt der Spielplatz, und im Sommer ist immer jemand am Rasenmähen. «In dieser Umgebung kann ich mich überhaupt nicht konzentrieren.» Vor Corona arbeitete sie oft im Zug. «Ich wählte die längsten Strecken, fuhr zum Beispiel nach Lausanne und sah mir über Mittag die Stadt an. Im Moment verwende ich mein GA nur noch, um von A nach B zu kommen.»