Erklärungen & Tipps der Neurowissenschaftlerin Maren Urner (37)
Wie die Dauerkrise das Hirn verändert – und was du dagegen tun kannst

In Krisen schaltet unser Gehirn in den Überlebensmodus. Dann sind wir nicht in der Lage, langfristige Entscheidungen zu treffen. Zudem sinkt unter Angst unser IQ. Eine Neurowissenschaftlerin erklärt, was dagegen hilft – und wie wir aus der Dauerkrise im Kopf rauskommen.
Publiziert: 19.04.2022 um 09:42 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 14:34 Uhr
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Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, was Krisen mit dem menschlichen Hirn machen.
Foto: UFUK ARSLAN
Karin A. Wenger

Die Pandemie, der Klimawandel, Kriege in der Ukraine und rund um den Globus: Die Welt scheint gefangen in einer Dauerkrise, die nie endet. Viele Menschen fühlen sich diesem Zustand ausgeliefert und denken, nichts dagegen unternehmen zu können. Doch das ist ein Trugschluss.

Um zu verstehen, wie wir aus der gefühlten Dauerkrise herauskommen, lohnt sich ein Blick in unseren Kopf: Die vielen negativen Nachrichten schlagen nicht nur aufs Gemüt, sondern verändern auch unser Gehirn.

Wie wirken sich Krisen auf das Gehirn aus?

«In einer Situation, die uns Angst macht, schaltet unser Steinzeitgehirn automatisch in den Überlebensmodus. Als Reaktionen bleiben uns nur noch kämpfen, flüchten oder erstarren», sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner (37). In diesem Modus seien Hirnregionen blockiert, die für langfristiges Planen zuständig seien. Das mache durchaus Sinn, unser Hirn richte sich dann nämlich auf das kurzfristige Überleben aus. Das Problem: «Wir sind unter Angst nicht in der Lage, langfristige Entscheidungen zu treffen, weil wir nur die kurzsichtige Perspektive beachten», erklärt sie. Studien zeigen, dass wir unter Angst auch Aufgaben schlechter lösen und unser IQ sinkt. Kurz: Die Angst macht uns dümmer.

Was ist die Funktion des Gehirns während Krisen?

Die grundlegendste Aufgabe des Gehirns ist es, uns am Leben zu halten. Deshalb versucht es ständig vorherzusagen, was als Nächstes passieren könnte. In einer Situation wie einer Pandemie oder einem Krieg ist es allerdings schwierig, Vorhersagen zu treffen, und die Lage verändert sich ständig. Deshalb laufen die Vorhersagen häufig ins Leere und die gesteigerte Unsicherheit kann mit einem Gefühl von Kontrollverlust einhergehen.

Schon unsere Vorfahren waren darauf ausgelegt, potenzielle Gefahren effektiv zu erkennen. Deshalb reagiere unser Gehirn schneller auf Gefahr, Negatives oder Sensationelles als auf positive oder neutrale Wörter, erklärt die Neurowissenschaftlerin Urner.

Was sind die langfristigen Folgen, wenn Krise auf Krise folgt?

Krisen und Angst lösen im Mensch biologischen Stress aus. Dies sei nicht dasselbe wie das, was wir im Alltag häufig als Termindruck bezeichnen, sagt Urner, sondern dass die Anforderungen, die wir ans Gehirn und den Körper stellen, höher seien als unsere Ressourcen. Sind wir permanent in diesem Zustand, kommt die Erholung zu kurz und Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit für psychische und andere chronische Krankheiten steigt.

Welche Rolle spielen die Medien während Krisen?

Viele Menschen haben während Krisen das Bedürfnis nach Informationen, um das Gefühl der Kontrolle zurückzugewinnen. Oft konsumieren sie dann pausenlos News, was die Situation allerdings nur noch schlimmer macht: Ergebnisse einer Studie nach dem Anschlag auf den Boston Marathon 2013 zeigen, dass Menschen, die den Vorfall intensiv in den Medien mitverfolgten, gestresster waren als die Menschen live vor Ort. Übermässiger Medienkonsum in Krisen überfordere das Gehirn, sodass wir als Folge schlechter informiert seien, als wenn wir weniger Nachrichten konsumiert hätten, sagt Urner.

Wie können wir die Welt konstruktiver wahrnehmen?

Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat sich intensiv damit beschäftigt, wie wir die Welt realistischer einschätzen können und so am Ende des Tages besser informiert sind. Ihre zwei wichtigsten Tipps, die jeder selbst umsetzen kann.

Tipp 1: Bewusster News konsumieren
Maren Urner rät, Medien bewusster zu konsumieren, zum Beispiel Zeiten zu definieren, wann wir das Smartphone brauchen – und wann nicht. Das Gehirn habe ein Limit, wie viele Informationen es pro Tag aufnehmen und verarbeiten könne. Mehr als diese individuell unterschiedliche Menge sei nicht möglich. Für die Verarbeitung von Informationen sind zudem Pausen wichtig, in denen wir etwas völlig anderes tun, zum Beispiel Bewegung, sich mit Menschen treffen oder schlafen.

Tipp 2: Das Denken verändern
«Wir müssen unsere Denkmuster verändern, um die Krisen unserer Zeit zu meistern», fordert Maren Urner. Hierfür entwickelt sie in ihrem aktuellen Buch «Raus aus der ewigen Dauerkrise» das Konzept des statischen und des dynamischen Denkens.

Wer statisch denke, wolle am Status quo festhalten, sagt Urner. Dies passe zum Gehirnmechanismus, der Sicherheit einfordere und sich vor dem Unbekannten fürchte. «Doch die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie die Klimakrise lösen wir nur durch dynamisches und lösungsorientiertes Denken», sagt sie. Das gelinge ganz einfach damit, sich öfter zu fragen: «Wofür?» statt «Wogegen?».

In einer Krise wie der Pandemie rät Urner, sich zu fragen: Was ist mir wichtig? Wo möchte ich in meinem Leben hin? Und dann zum Beispiel eine Liste zu schreiben. «Das kreiert einen neuen Zustand. Die Gegenspielerin der Hilflosigkeit ist die Selbstwirksamkeit.»

Ein weiterer Punkt des dynamischen Denkens ist, Gruppen neu zu definieren. Das Gehirn definiere im Streben nach Sicherheit immer Gruppen, sodass man sich abgrenze und darauf schaue, was einen von anderen unterscheide, sagt Urner. Das verhindere, in eine Verbindung zu kommen und gemeinsam Probleme zu lösen. Stattdessen schlägt die Neurowissenschaftlerin vor, bei anderen Menschen nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen. Denn: Jahrzehntelange Forschung zeigt, dass funktionierende soziale Beziehungen der wichtigste Faktor für ein gesundes und glückliches Leben sind.

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