Ein Face Reader im Interview
«In der Schweiz ist Gesichtlesen sehr gefragt»

Zeigen Sie mir Ihr Gesicht, und ich sage Ihnen, wer Sie sind. Dieses Motto verfolgen Gesichtleser auf der ganzen Welt. Eric Standop ist einer davon. Er hat bei der Autorin ein Speed-Reading gemacht.
Publiziert: 06.10.2020 um 13:49 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2020 um 09:58 Uhr
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Lange Nase oder schmale Lippen? Angeblich sollen bestimmte Gesichtsmerkmale verraten, wie ein Mensch tickt.
Foto: Getty Images
Vanessa Büchel

Als das Interview mit Eric Standop per Videocall beginnt, stelle ich mir vor, wie es in ihm rattert. Er scannt jetzt bestimmt jede Sekunde mein Gesicht und meine Mimik, denke ich mir.

Standop ist Gesichtleser und auf seinem Beruf international tätig. Er ist Gründer der Face Reading Academy, wobei er an vielen Orten in Europa und Asien leitet und lehrt.

Doch läuft das Scannen eines Gesichts bei Standop wirklich nonstop und unbewusst ab? «Nein, ich habe abends natürlich auch einmal Feierabend und muss nicht das Gesicht von jedem lesen, der an mir vorübergeht», sagt Standop zu BLICK. Es sei wichtig, dass man sich das abgewöhne, weil wenn man ständig Menschen lese, käme es irgendwann zu einem Informationsüberfluss.

«Wir haben Angst davor, unsere Maske fallen zu lassen»

Face Reader werden noch heute schräg angeschaut, doch hat sich das Ansehen um die Technik deutlich verbessert, wie Standop erklärt: «Als ich vor 15 Jahren damit angefangen habe, haben sehr viele es verdammt und als esoterisch oder Hokuspokus abgetan.»

Heute habe sich das geändert. So werde im Polizeidienst beispielsweise auch auf die Mimik bei Verbrechern geachtet, weil man realisiert hat, dass das grosse Aussagekraft hat.

Geht man hierzulande in eine Buchhandlung, findet man Face-Reading-Bücher aber eher in der Esoterikabteilung. «Das ist wohl so, weil Gesichtlesen immer sehr schnell mit Handlesen in Verbindung gebracht wird.» In China oder den USA sei das ganz anders: Bei den Amerikanern fände man Bücher zu diesem Thema in der Selfenrichment- oder psychologischen Abteilung und bei den Chinesen im gesundheitlichen Bereich oder unter Menschenkunde. «Ich glaube, in Europa ist es vor allem die Angst, dass wir zu sehr bewertet werden könnten. Oder die Furcht davor, seine Maske fallen lassen zu müssen.»

In der Schweiz ist Face Reading aber erstaunlich beliebt, wie Standop anführt. «Es ist eher polarisierend.» Hierzulande gibt es scheinbar zwei Lager: Entweder man sei Feuer und Flamme dafür oder man stemple das Thema als Hokuspokus ab.

Die Geschichte des Face Reading

Die Geschichte des Face Readings beginnt früh. Bereits Aristoteles befasste sich mit dem menschlichen Gesicht. «Physiognomia» – so hiess die Schrift des griechischen Gelehrten. «Ja, er war ein Philosoph und Ratgeber von Alexander dem Grossen, aber auch Gesichtleser und Aristoteles hat niedergeschrieben, was er über den Menschen, sein Äusseres und seine Gesichtszüge ableitet», weiss Standop.

Später war das Gesichtlesen lange Zeit stark verpönt. Autoren wie Carl Huter warfen für viele ein unseriöses Licht auf die Lehre. «Die Huter-Lehre ist noch heute in der Schweiz verbreitet. Er war aber ein Deutscher und lebte um 1900.» Huter habe irgendwann damit angefangen sich von der ursprünglich griechischen Lehre zu entfernen, hier und da Dinge zu erfinden oder etwas frei zu deuten, und das nicht aus Boshaftigkeit, sondern einfach, weil er daran glaubte und die Leute ihm Glauben schenkten.

Heute kann man nicht mehr mit Methoden von 1900 arbeiten, wie Standop erklärt: «Gesichtlesen ist nicht Huter-Lesen! Es ist modern und muss auch immer im Kontext der Zeit gesehen werden. Unser Aussehen, unsere Mimik verändert sich stetig.»

Studien mit Affen und Fussballbspielern

Mittlerweile gibt es mehr Studien zum Thema. Das Lesen von Gesichtern wird vor allem an Universitäten untersucht. Eine dieser Forschungen führte Carmen Lefevre an der Northumbria University durch. Darin zeigte sich, dass Personen mit breiteren und markanteren Gesichtern einen höheren Testosteronspiegel aufweisen. Diese Menschen sollen sich oftmals dominanter und aggressiver verhalten. Lefevre betont aber, dass es sich nur um Tendenzen handelt, nicht jeder mit hohem Testosteron sei aggressiv.

Geforscht wurde an Kapuzineräffchen, bei denen das Verhältnis zwischen Breite und Länge des Gesichts gemessen wurde. Dieses entscheidet angeblich darüber, welche Position das Tier in der Rangordnung einnimmt. An der Universität von Colorado wurde dagegen eine Studie mit Fussballern erhoben. Während der Fussball-Weltmeisterschaft 2010 wurde beobachtet, dass Spieler mit breiteren Gesichtern öfters foulten, aber auch häufiger Tore schossen.

Jeder ist ein Gesichtleser

Standop hat kürzlich ein neues Buch herausgebracht. «Ich lese dich» heisst das Werk des Experten für Gesichtlesen und Antlitzdiagnostik, das Face Reading für alle Menschen zugänglich machen soll.

Darin heisst es: «Wir alle kommen als Gesichtleser zur Welt.» Standop unterstreicht diese Aussage noch: «Der Hypothalamus ist ein Bereich im Gehirn, dessen wichtigste Aufgabe es ist, Gesichter zu erkennen. Schon bei den Homo Sapiens war das so, und das hat sich bis heute nicht geändert.»

Gesichtlesen sei also eine reine Übungssache. Wird dieser Bereich häufiger stimuliert und regelmässig trainiert, verbessert sich die Qualität des Gesichtlesens. «Meinen Schülern sage ich immer: ‹Ihr stimuliert das, was ihr schon habt›.»

Die Grundlagen der Technik

Doch wo fängt man an, wenn man im Gesicht von jemandem lesen möchte? «Auge und Mund haben das letzte Wort. Egal, was man vorher sieht, wenn Auge und Mund eine andere Meinung haben, dann zählt nur noch das», beschreibt Standop die grosse Bedeutung dieser Punkte im menschlichen Gesicht.

Augen und Mund seien so wichtig, weil sie sich am schnellsten verändern können. Wir haben 43 Muskeln im Gesicht, und die meisten davon sind bei Auge und Mund angesiedelt. «Das bedeutet, Augen und Mund geben einen aktuellen Stand der Dinge wieder», so Standop. Haare, Wangen oder Nase, verändern sich laut dem Gesichtleser zwar auch, aber nicht so schnell. «Diese erzählen zwar eine Geschichte, aber Augen und Mund können eher aussagen, wie der Jetzt-Zustand gerade ist.»

Verschiedene Gesichtsformen

Auch die Gesichtsform spielt beim Lesen eine wichtige Rolle, wie ich während meines Speed-Readings erfahre. «Gesichtsformen sind nicht sehr individuell, es gibt eine chinesische Technik, die kennt etwa 30 Formen. Daneben kann es Mischformen geben, von denen es an die 60 bis 70 Varianten sind.»

Mein Gesicht soll gleich aus drei Formen zusammengesetzt sein: Jade, Baum und Schlange. Hat man so viele Gesichter, kann man schnell missverstanden werden, wie Standop mir erklärt.

Der Face Reader verwendet beim Lesen verschiedene Techniken, die er bei verschiedenen Meistern in verschiedenen Ländern gelernt hat. Heute ist Standop der einzige Lehrmeister weltweit, der die verschiedenen internationalen Methoden des Gesichtlesens vereint.

Bei mir verwendet er unter anderem das griechische Gesichtlesen nach Aristoteles, laut dem ich angeblich progressiv, couragiert und resolut bin, aber auch heilende Talente besitze und effizient darin bin, ein guter Ratgeber zu sein. «Du bist eine Person, die ein gutes Urteilsvermögen hat, die Glamour und lange Reisen mag.» irgendwie trifft dieser Gesichtleser, der mich gar nicht kennt, erstaunlich gut. Ganz schön erschreckend.

Persönlichkeit ist nicht gleich Charakter

Zur Auswahl bei einem Face Reading stehen die Themen Gesundheit, Ernährung, Persönlichkeit, Liebe, Karriere, Lebensaufgabe und Schicksal.

Seine Persönlichkeit hat ein Mensch dabei schon von Geburt an, wie Standop erklärt. «Schon als Baby haben wir eine Persönlichkeit – das eine Baby weint mehr, das andere lacht mehr.» Diese Persönlichkeit sei die Essenz eines Menschen. Hinzu kommt dann der Charakter, der sich über die Jahre hinweg entwickelt. «Wenn der Charakter genau so wie die Persönlichkeit ist, dann haben wir einen authentischen Menschen. Wenn der Charakter weit weg von der Persönlichkeit liegt, dann haben wir einen Menschen, der oft mentale Probleme hat. Das heisst er ist oft frustriert, melancholisch oder ähnliches», führt der Experte des Gesichtlesens aus.

Im Bann des Gesichtlesens

In seinem früheren Leben hatte Standop nie länger als zwei bis drei Jahre einen Beruf ausgeübt. Er war in der Unterhaltungsbranche tätig, als Manager im Marketing für Computerspiele, Kinos und Freizeitparks.

«Endlich habe ich einen Beruf gefunden, der mich so richtig fesselt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass er so bunt und facettenreich ist», schwärmt der Gesichtleser.

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