Welche Gene haben wir Europäer? Woher stammt das genetische Risiko, an Krankheiten wie Multipler Sklerose, Diabetes oder Alzheimer zu erkranken? Diesen Fragen ist ein Forscherteam der Universitäten Oxford und Kopenhagen rund um den dänischen Evolutionsgenetiker Eske Willerslev (52) nachgegangen. Sie untersuchten 5'000 menschliche Genome aus 34'000 Jahren und verglichen sie mit dem Erbgut von 410'000 heutigen Menschen. Es handelt sich um die grösste je durchgeführte Untersuchung im Bereich der Evolutionsgenetik.
Die Forschenden präsentierten die Mega-Studie nun im Fachmagazin Nature. Sie halten fest: Unsere Gene wurden von Einwanderungswellen in den letzten 45'000 Jahren geprägt. Diese Migrationswellen nach Europa erklären genetische Unterschiede zwischen Norden, Süden, Osten und Westen bis heute. Und einige Gene, die früher überlebenswichtig waren, sind heute Ursachen für verbreitete Krankheiten.
Migration war und ist entscheidend
Willerslevs Team stellte fest, dass das Erbgut heutiger Europäer von drei grossen Migrationswellen beeinflusst wurde. Die ersten Menschen – es handelte sich um steinzeitliche Jäger und Sammler – wanderten vor 45'000 Jahren aus Afrika nach Europa. Vor 11'000 Jahren kam es dann zu einer zweiten Migrationsbewegung von Bauern aus dem Nahen Osten und aus Anatolien (heutige Türkei, Irak und Syrien). Sie siedelten sich vor allem in Südeuropa an. Und vor 5000 Jahren kamen Viehhirten aus der Schwarzmeerregion und der eurasischen Steppe (heutige Ukraine, Südrussland und Kasachstan) ins nördliche und östliche Europa.
Mit jeder Einwanderungswelle brachten die Menschen spezifische Genvarianten nach Europa. Die Viehzüchter Eurasiens waren zum Beispiel grösser als die damals bereits in Europa lebenenden Menschen – vermutlich, weil ein grösserer Körperbau evolutionäre Vorteile mit sich brachte und weil ihre Ernährung generell mehr Wachstum zuliess.
Grössere Nordeuropäer, kleinere Südeuropäer
Da sich die Viehhirten vor allem im Norden des Kontinents ansiedelten (etwa in Skandinavien), sind die Menschen dort heute noch grösser als im restlichen Europa. Die ursprünglich aus dem Nahen Osten stammenden Bauern in Südeuropa lebten dagegen unter anderen evolutionären Umständen. Ihre Ernährung sah anders aus und Körpergrösse schien keinen Vorteil darzustellen, weshalb sie weniger gross waren. Deswegen sind Menschen im heutigen Italien, Spanien oder Griechenland auch kleiner als in Zentral- oder Nordeuropa.
Regionen, die lange Zeit isoliert blieben, wo sich weder nahöstliche Bauern noch eurasische Hirten langfristig niederliessen, weisen heute die meisten genetischen Übereinstimmungen mit steinzeitlichen Jägern und Sammlern auf. Das betrifft laut Willerslev vor allem Osteuropa. Deswegen ist dort heute die Verbreitung moderner Zivilisationskrankheiten wie Alzheimer oder Typ-2-Diabetes höher als in Resteuropa. Die Forschenden vermuten, dass das mit den steinzeitlichen Genvariationen zusammenhängt, die weniger gut auf moderne Krankheiten reagieren können.
Ursprünge von Multipler Sklerose geklärt
Eine Erkenntnis des Forscherteams ist besonders aufschlussreich: Willerslev wies in Nordeuropa einen Zusammenhang zwischen der dortigen menschlichen DNA und der Verbreitung von Multipler Sklerose (MS) nach. MS äussert sich heute vor allem in einer überschiessenden Reaktion des eigenen Immunsystems, was zur Zerstörung des Nervensystems führt. Eine solche Überreaktion des Immunsystems könnte früher überlebenswichtig gewesen sein – vor allem unter eurasischen Viehhirten. Diese Überreaktion führte vor 5000 Jahren zur Stärkung der Immunabwehr und damit zum besseren Schutz vor Krankheiten, die von Schafen und Rindern der Hirten ausgingen.
Heute ist dieser Schutz überflüssig. Was bleibt, ist die genetisch bedingte Überreaktion des Immunsystems. Und damit das erhöhte Risiko, an MS zu erkranken. Dieses ist in Nordeuropa fast doppelt so gross wie in Südeuropa. Genau weil sich in Nordeuropa Viehhirten mit der entsprechenden Genvariante ansiedelten. Diese Erkenntnis, so die Forschenden, bringen uns einen grossen Schritt weiter in unserem Verständnis der Entwicklung von MS und anderen Autoimmunerkrankungen.