Darum gehts
Wenn junge Männer jeden Tag im Fitnessstudio ihre Muskeln stählen und sich strikt gesund ernähren, ist das allemal besser, als wenn sie gamen und kiffen. Dieser Glaubenssatz ist weit verbreitet. Richtig ist er deswegen nicht, sagt Psychologe Roland Müller. «Diese Annahme führt dazu, dass eine der wahrscheinlich neuzeitlichsten psychologischen Störungen bei jungen Männern gesellschaftlich toleriert und sogar gefördert wird.»
Die Rede ist von Bigorexie, im Volksmund auch Muskelsucht. Sie betrifft nicht nur, aber in erster Linie jüngere Männer. Wie sie zustande kommt und welche Folgen die Suchterkrankung haben kann, wenn sie unentdeckt bleibt, erklärt Müller im Interview.
Roland Müller, was ist Bigorexie?
Bigorexie ist eine Suchterkrankung mit Parallelen zur Anorexie. Während Magersüchtige sich als zu dick empfinden, nehmen Bigorexie-Betroffene ihren Körper als zu wenig muskulös wahr und versuchen zwanghaft, Muskeln aufzubauen. Unabhängig vom tatsächlichen Körperbau bleibt das Gefühl, nicht genügend definiert oder muskulös zu sein.
Warum ist eine Muskelsucht bei den Essstörungen angegliedert?
Die Wissenschaft ordnete sie zunächst den Essstörungen zu, weil Betroffene oft strikte Ernährungsregeln befolgen und Zucker oder Fett meiden. Heute spricht man von Muskeldysmorphie, da die verzerrte Körperwahrnehmung im Zentrum steht. Das wiederum gehört zu den Zwangsstörungen. Kriterien einer Essstörung können sekundär auftreten.
Magersucht kennt man. Warum ist Muskeldysmorphie so wenig bekannt?
Weil sie sich hinter vermeintlich gesundem Verhalten versteckt. Fitness und gesunde Ernährung gelten als erstrebenswert. Gerade Männer hören oft, dass Sport besser sei als ungesunde Gewohnheiten.
Was ist problematisch an gesundem Essen und Fitness?
Das Problem beginnt, wenn das Verhalten zwanghaft wird. Wenn jemand die Kontrolle verliert und keinen entspannten Moment mehr zulassen kann. Ein Fünftel der fitnessbegeisterten Männer zeigt deutliche Symptome, bei Frauen ist es etwa eine von zehn. Der Ausbruch geschieht meist um das zwanzigste Lebensjahr herum.
Gibt es eine klare Grenze zwischen gesundem Fitnesstraining und zwanghafter Muskelsucht?
Mehr Training allein ist kein eindeutiges Zeichen. Man kann auch sechsmal pro Woche ins Fitnessstudio gehen, ohne an Muskeldysmorphie zu leiden. Kritische Anzeichen sind ein rigides Essverhalten, sozialer Rückzug und der Zwang, den Körper ständig zu bedecken. Jugendliche, die den Sportunterricht meiden oder sich nicht mehr ausziehen wollen, könnten betroffen sein. Menschen mit verzerrter Körperwahrnehmung schämen sich für ihren Körper und verstecken ihn oft.
Welche Folgen hat eine unbehandelte Muskelsucht?
Betroffene ordnen ihr Leben zunehmend dem Training und der Ernährung unter. Soziale Kontakte werden vernachlässigt, da Betroffene sich für ihren Körper schämen und sich zurückziehen. Auch das Essverhalten wird zwanghaft kontrolliert, andere Hobbys treten in den Hintergrund, und das Leben wird zunehmend eintönig. Die ständige Sorge, nicht muskulös genug zu sein, erhöht das Risiko, Depressionen und Angststörungen zu erleiden. Der innere Druck, immer weiter zu trainieren, bleibt bestehen. Es liegt zudem nahe, dass viele Betroffene zu leistungssteigernden oder illegalen Substanzen greifen, was gesundheitliche Schäden und Abhängigkeit nach sich ziehen kann.
Was löst eine verzerrte Muskelwahrnehmung aus?
In Familien, die das äussere Erscheinungsbild oder die sportliche Leistung überbewerten, steigt das Risiko. Auch Mobbing und ein geringes Selbstwertgefühl spielen eine Rolle. Das omnipräsente Bild des muskulösen Mannes in der Werbung und in sozialen Medien verstärkt den Druck.
Betroffen sind vor allem Jugendliche. Wie können Eltern vorbeugen?
Verbote helfen wenig. Wichtiger ist eine gute Medienkompetenz: Eltern sollten mit Jugendlichen darüber sprechen, welchen Einfluss soziale Medien haben. Eltern können ausserdem vielseitige Interessen fördern, sodass sich nicht alles auf den Sport fokussiert.
Wie unterstützt man Betroffene?
Am besten einfühlsam. Druck ist kontraproduktiv. Betroffene versuchen durch Training und Ernährung Kontrolle auszuüben. Direkte Verbote können Widerstand auslösen, weil sie als Kontrollverlust wahrgenommen werden. Stattdessen sollte man Interesse zeigen und Alternativen anbieten, etwa gemeinsame Aktivitäten und Ausflüge. In schwerwiegenden Fällen kann eine Elternberatung durch eine Fachstelle hilfreich sein.
Wie sind die Heilungschancen?
Zur Behandlung gibt es verschiedene therapeutische Ansätze. Bei Essstörungen zeigt die Forschung, dass ein Drittel der Betroffenen geheilt wird, ein Drittel Restsymptome behält und ein Drittel chronisch betroffen bleibt. Wer lange in diesem Muster gefangen ist, wird meist ein Leben lang damit kämpfen müssen – doch ein gesunder Umgang mit Sport und Ernährung kann erlernt werden.