Schweizer Käse in Costa Rica
Queso suizo, por favor

In einem abgelegenen Bergdorf in Costa Rica hat die Familie Zuñiga es geschafft, durch die Herstellung von Gruyère-Käse ihrem Leben in Armut zu entkommen. Martin Chatagny, ein Schweizer Bauer, brachte ihnen die Käseherstellung vor 20 Jahren bei.
Publiziert: 25.08.2024 um 17:47 Uhr
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Aktualisiert: 25.08.2024 um 18:36 Uhr
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Vater Wilbert und Sohn Stewen Zuñiga können heute auf Costa Rica von ihrer Gruyère-Produktion leben.
Foto: Réka Kókai
Dennis Andrew Frasch

Canaán de Rivas, ein abgelegenes Bergdorf in Costa Rica. Ein Mann im Hawaiihemd steht auf der Veranda eines Hauses und möchte Käse kaufen. «Queso suizo, por favor», sagt er mit ausländischem Akzent, Schweizer Käse, bitte. Dafür sei der Mann extra drei Stunden hergefahren. Jetzt hat er die Qual der Wahl: Auf einem Holztisch liegen die Käsestücke aus, alle luftdicht verpackt. Langsam rinnen Schweissperlen über die Stirn des Mannes. Es ist Februar, Hochsommer in Costa Rica, das Thermometer zeigt 31 Grad. Endlich hat er sich für ein Stück Käse entschieden, vier Monate gereift, 4600 Colones, umgerechnet 7.70 Franken. 

Den ganzen Tag stapfen Leute die steile Auffahrt zum Haus hinauf. Ein Ehepaar aus der Hauptstadt San José will gleich zwei Kilo Käse mit nach Hause nehmen. Eine junge Frau aus Italien kauft zwei Stück mit Knoblauch und Chili. Sie alle sind die kurvige, mit Schlaglöchern übersäte Bergstrasse hochgefahren, hinein in den tropischen Nebelwald, vorbei an immergrünen Eichen und Baumfarnen, am Horizont der Cerro Chirripó, der höchste Berg in Costa Rica. Bis sie das Dorf Canaán de Rivas erreichten. Hier gibt es eine Kirche, eine Schule und ein Schmetterlingshaus. Und Quesos Canaán, die Farm der Familie Zuñiga.

Bauern seit eh und je

Die Familie Zuñiga, das sind: Vater Wilbert, Mutter Kattia und Sohn Stewen. 55, 54 und 27 Jahre alt, Bauern seit Generationen. Viele Jahre lang lebten sie in Armut. Bis die Zuñigas es schafften, den Costa Ricanern Gruyère-Käse schmackhaft zu machen. Ihre Erfolgsgeschichte begann 2002 mit einem Anruf aus der Schweiz.

«Vamos», ruft Stewen Zuñiga dem Reporter zu. Er hat einen Ziegenbart und Grübchen, wenn er lacht. Stewen will dem Reporter die Farm zeigen, sein Vater Wilbert ist gerade noch bei den Kühen. Von der Strasse sieht die Farm aus wie die Finca einer Grossmutter. Ein kleines Haus auf einer Anhöhe, überall blüht es: Rhododendren, Orchideen, Drillingsblumen. Nur der Geruch nach Kuhmist verrät, dass es sich um einen Bauernbetrieb handelt. Im Haus ist Mutter Kattia die Chefin: Sie sorgt dafür, dass jeder seinen Käse bekommt.

Hinter dem Haus, an einem steilen Hang, liegen die Felder. Acht Hektar, die Stewens Urgrossvater vor 60 Jahren für rund 10 Franken gekauft hat. Der baute erst Zuckerrohr an. Doch damit liess sich kaum Geld verdienen. Grossvater Zuñiga versuchte es mit Arabica-Kaffee, wie fast alle Bauern hier in den Bergen. Aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg. Als Papa Wilbert Zuñiga den Hof übernahm, wollte er Milch produzieren. Er nutzte ein Angebot des Staates: Er bekam 20 Kühe, musste aber auch 50 Prozent des Erlöses abgeben. Die Milch verkaufte er an eine grosse Fabrik, unten in San Isidro de El General, einer Stadt mit 45'000 Einwohnern, eine halbe Autostunde entfernt. Die Fabrik stellte aus der Milch Joghurt und Glace her. Das war Ende der 1990er-Jahre.

Offene Türen für Schweizer Gast

Nach fünf Jahren kam ein Bauer aus El Salvador zu den Zuñigas auf den Hof. Er war Teil eines staatlichen Austauschprogramms, Wilbert sollte ihm beibringen, wie man dafür sorgt, dass Kühe mehr Milch geben. Der Bauer aus El Salvador erzählte Wilbert, dass er einen Mann aus der Schweiz kenne, der anderen beibringe, wie man Schweizer Käse herstellt. Ob Wilbert nicht auch Interesse hätte?

Besuch aus der Schweiz? Klar, sagte Wilbert, warum nicht. Zu dieser Zeit brachte sein Hof nicht genügend Geld, um die Familie zu ernähren. Wilbert musste nebenbei noch auf einem anderen Hof arbeiten, seine Frau Kattia half in einem Restaurant aus. 

Sieben Monate später klingelte das Telefon. Ein Mann war dran, er sprach kaum Spanisch. Er sagte, er heisse Martin Chatagny, habe sich gerade ein Flugticket gekauft und werde nächsten Monat in Costa Rica ankommen. 

Costa Rica ist in vielerlei Hinsicht der Schweiz ähnlich, so sehr, dass das kleine Land zwischen Nicaragua und Panama oft als «Schweiz Zentralamerikas» bezeichnet wird. Costa Rica ist neutral, führt keine Kriege, ist atemberaubend schön, von Gebirgen durchzogen und vergleichsweise reich. Sogar der Sprachgebrauch ist ähnlich: Schweizerdeutsch ist bekannt dafür, alles mit einem «li» am Ende zu verniedlichen. Gipfeli, Chätzli, Rüebli. In Costa Rica macht man es genauso, nur mit einem tico. Aus un poco (ein bisschen) wird un pocuitico. Aus perro (Hund) wird perritico. Die Costa Ricaner nennen sich selbst auch einfach Ticos und Ticas.

Eines ist aber definitiv anders: der Käse. In Costa Rica gibt es den queso fresco, auch Turrialba genannt, einen ungereiften Frischkäse. Oder den queso palmito, eine Art Mozzarella, der seinen Namen der Ähnlichkeit mit einem Palmherz verdankt. Der geneigte Käseliebhaber schmeckt schon beim Lesen, dass es sich um sehr fade Käsesorten handelt. 

«Martins Ankunft war eine Katastrophe», sagt Wilbert Zuñiga, der sich dem Gespräch angeschlossen hat. Wilbert ist ein schlaksiger Mann mit gebräunter Haut, ein Läufer. Über 25 Mal hat er den Gipfellauf zum Cerro Chirripó absolviert. Wilbert erzählt, er und seine Frau hätten alle Bauern des Dorfs eingeladen, drei Tage lang sollten sie von dem Schweizer Bauern lernen. 20 Familien kamen. 

Martin Chatagny engagierte sich da bereits seit 20 Jahren in Zentralamerika. Zuvor bewirtschaftete er einen Bauernhof in Corserey FR und war Präsident der Bauerngewerkschaft Uniterre. So steht es im Archiv für Agrargeschichte. Nach seinem Rücktritt widmete er sein Leben der Entwicklungshilfe. Von Costa Rica bis El Salvador brachte er Bauern bei, wie man Schweizer Käse herstellt. 

Käseherstellung – die einzige Wahl

Als Willkommensgeschenk für die Bauern von Canaán de Rivas brachte Martin Chatagny ein Stück Gruyère mit. «Als er den Käse auspackte, ging ein Raunen durch den Raum», sagt Wilbert. Der Käse war gelblich-braun, so etwas hatten sie noch nie gesehen. Wilbert lacht. «Als er die Packung öffnete, stank es so sehr, dass wir am liebsten weggelaufen wären.» Einige überwanden sich und probierten ein Stück, verzogen das Gesicht und lächelten gequält. «Andere versuchten, den Käse in meiner Sofaritze verschwinden zu lassen», sagt Wilbert. «Einer wollte den Käse meinem Hund geben. Aber nicht einmal der wollte ihn fressen.» Als Chatagny den schockierten Bauern dann auch noch erzählte, dass es mindestens drei Monate dauere, manchmal viel länger, bis das stinkende Stück fermentierte Milch fertig sei, dachten viele: Der spinnt. 

Am zweiten Tag kam ausser den Zuñigas niemand mehr zu Martin Chatagnys Unterricht. «Und wir waren nur da, weil Martin bei uns übernachtete», sagt Wilbert. «Wir konnten nicht wegrennen.» Chatagny erklärte ihnen den gesamten Prozess der Käseherstellung: die optimale Temperatur der Rohmilch (37 bis 47 Grad), wie lange gerührt werden muss (30 bis 60 Minuten), wie hoch die Luftfeuchtigkeit im Käsekeller sein muss (80 bis 100 Prozent). 

Chatagny gab den Zuñigas Holzschüsseln, um den Käse darin reifen zu lassen. Zum Abschied sagte er ihnen, dass er nächstes Jahr wiederkommen werde, um zu sehen, wie weit sie mit dem Käse gekommen sind. «Uns blieb nichts anderes übrig, als von nun an Schweizer Käse zu machen», sagt Wilbert.

Drei Monate später war der erste Laib fertig. Ehefrau Kattia versuchte vergeblich, ihn bei den monatlichen Gemeindeversammlungen loszuwerden. Bei den Dorfbewohnern war nicht viel zu holen. Es war das Glück der Zuñigas, dass Canaán de Rivas sich gerade im Umbruch befand. Franzosen, Italiener und Kanadier kamen, um sich fernab der Zivilisation ein Stück Land zu kaufen und ihren Traum von einem alternativen Leben zu verwirklichen. Rund 20 Ausländer lebten inzwischen im Dorf. «Wir beschlossen, sie zu einer unserer Gemeindeversammlungen einzuladen, um sie kennenzulernen», erzählt Wilbert. Vielleicht würden sie den Käse mögen?

Schweizer Käse findet Anklang bei Aussteigern

Nach der Versammlung kam Kattia mit einer ganzen Gruppe von Ausländerinnen und Ausländern nach Hause. Sie konnten gar nicht glauben, dass jemand am anderen Ende der Welt Käse von europäischer Qualität herstellt. Sie boten Wilbert an, 2000 Colones für ein Kilo zu bezahlen. Das waren damals fünf Franken. Oder das Fünffache dessen, was Wilbert für normalen Käse bekommen hätte. «Ich bin fast in Ohnmacht gefallen», sagt Wilbert. Sein Sohn Stewen, damals noch ein Kleinkind, rannte mit den Colones-Scheinen durchs Haus und schrie: «Wir sind Millionäre!»

Jedes Jahr kam Martin Chatagny zu Besuch. Martin und Wilbert tüftelten am Rezept, stellten Parmesan und Blauschimmelkäse her, einmal liessen sie einen Gruyère dreieinhalb Jahre reifen. Irgendwann sagte Martin zu Wilbert, er müsse einmal in die Schweiz kommen, zu ihm nach Gruyère, um zu sehen, wie er arbeitet. «Ich habe ihm gesagt, dass ich mir das nur leisten kann, wenn ich mit dem Fahrrad in die Schweiz fahre», sagt Wilbert lachend. Ein paar Monate später sass Wilbert im Flugzeug. Martin hatte ihm das Ticket gekauft. 

Wilbert verschwindet im Haus und kommt mit einem Stapel Fotobücher zurück. Sie zeigen ihn und Martin auf dem Gipfel des Moléson, im alten Bauernhaus beim Abendessen, Wilbert mit einem riesigen Laib Käse in der Hand. Auf jedem Foto lächelt er wie ein kleiner Schuljunge. Stewen sitzt daneben und sagt: «Er kann bis heute nicht aufhören, von diesen vier Wochen zu erzählen.»

Gruyère erfreut sich steigender Beliebtheit bei Costa Ricanern

Zu Hause fand Wilbert immer mehr Kundinnen und Kunden. Canaán de Rivas wurde bei Aussteigerinnen und Bergsteigern gleichermassen beliebt. Und auch die Costa Ricaner kamen langsam auf den Geschmack des gereiften Käses. Nach einigen Jahren lief das Geschäft so gut, dass Wilbert und seine Frau ihre Nebenjobs aufgeben konnten.

Heute haben die Zuñigas zehn Kühe. Jede hat einen Namen. Vivien, Novilla, Esther oder Brownie. Vivien ist 13 Jahren alt, Novilla bereits 20. Normale Milchkühe werden nach ungefähr sechs Jahren zum Schlachter geschickt. Auf dem Hof der Zuñigas passiert das nur, wenn es zu einem Unfall kommt. Zum Beispiel, wenn ein Puma angreift oder die Kühe von Schlangen gebissen werden. Aber das komme selten vor.

Acht Jahre nach ihrem Kennenlernen besuchte Martin Chatagny die Zuñigas ein letztes Mal. Danach telefonierten sie oft und schrieben sich Briefe. Bis der Kontakt irgendwann versiegte. Wilbert macht eine Pause und sagt dann: «Wir wissen nicht, was mit Martin ist. Wir befürchten, er ist gestorben.»

Die Suche nach Chatagny

Ein paar Monate später. Blick hat sich auf die Suche nach Chatagny gemacht. Natürlich würden wir an dieser Stelle gerne von einer aufwendigen Recherche berichten, aber in Wirklichkeit findet man die Chatagnys einfach im Telefonbuch. Sie leben heute in der Gemeinde Vuadens im Kanton Freiburg. 

Das Telefon klingelt. Das Freizeichen ertönt. Eine Frau nimmt ab. «Bonjour?», sagt sie. Ob sie einen Herrn Martin Chatagny kenne, fragt der Reporter. «Ja», sagt sie. Einen Martin Chatagny, der vor 20 Jahren in Costa Rica Bauern beibrachte, wie man Käse herstellt? «Martin!», ruft sie. «Jemand will etwas über Käse wissen.»

«Bonjour», ertönt es ein zweites Mal. Es ist Martin Chatagny. Seine Stimme ist brüchig. Es braucht ein paar Momente, bis er sich erinnert. Dann sagt er, er sei jetzt 85 Jahre alt, und der Kontakt zu den Zuñigas sei irgendwann einfach abgebrochen. Aber er habe schöne Erinnerungen an die Zeit in Costa Rica. Dann legt er auf.

Auf Whatsapp zeigen sich die Zuñigas überglücklich, dass Martin noch lebt. Sie wollen ihm einen Brief schreiben. Wilbert wird ein Foto beilegen, mit einem riesigen Laib Käse in der Hand.

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