«Aaah!», macht die Zahnärztin. Mönkshur (5) liegt da, ihre Augen weit aufgerissen, die kleinen Hände zu Fäusten geballt. Auf dem Stuhl nebenan wimmert bereits ein Junge. Fünf verfaulte Zähne müssen ihm gezogen werden, bis an die Wurzeln hat sich die Karies durch sein junges Gebiss gefressen.
Mönkshur zögert. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie auf einem Zahnarztstuhl liegt. Zum ersten Mal schmeckt sie die Latexhandschuhe auf ihren Lippen, hört den Bohrer im Zimmer nebenan surren, wird geblendet von der Stirnlampe der Zahnärztin. Hier werden ihre Schmerzen weggehen, hat die Mutter gesagt.
Mobile Praxis im mongolischen Nirgendwo
An der Eingangstüre drücken sich etwa 30 Kinder die Nasen platt. Hier, in dem kleinen Spital in Shargaljuut. Ein mongolisches Dorf mit rund 1400 Einwohnern in einem Tal inmitten der Khangai-Berge, elf Autostunden südwestlich der Hauptstadt Ulaanbaatar. Draussen ziehen Yaks und Kaschmirziegen durch die verschneite Weite.
«Aaah!», wiederholt die Zahnärztin. Mönkshur macht den Mund auf.
94 Prozent der Kinder haben Karies
Im Gang wuselt es. Zwischen blauen Wänden mit verblichenen Postern von menschlichen Skeletten warten Kinder, bis sie dran sind. Assistentinnen hasten in den Lagerraum, holen Desinfektionsmittel und Füllmaterial. Neugierige Eltern stecken ihre Köpfe in die Zimmer.
Eine blonde Frau mit grauer Arbeitsweste erklärt ihnen auf Mongolisch, wie die Behandlung abläuft. Es ist Gaby Schmidt-Corsitto (60). Die Frau, die hier alles aufgegleist hat.
Eigentlich ist sie eine Schweizer Dentalhygienikerin aus Binningen BL. Nachdem sie fast 20 Jahre in Afrika gelebt hat, zog sie 2013 mitsamt ihrer Familie in die Mongolei. In das Land, in dem so viele Kinder Karies haben wie fast nirgendwo sonst auf der Welt.
Mindestens 94 Prozent der Fünf- und Sechsjährigen sind betroffen, schätzt die Mongolian Dental Association (MDA). Zum Vergleich: Im Kanton Basel-Landschaft hatten 2021 rund 32 Prozent der Siebenjährigen Karies.
Nach Grönland ist die Mongolei der am dünnsten besiedelte Staat der Welt. Nur knapp 3,5 Millionen Menschen leben in den ausgedehnten Steppen, fast 38-mal so gross wie die Schweiz. Der Weg in die Hauptstadt, wo nahezu alle Zahnarztpraxen sind, ist oft weit und beschwerlich.
Aus diesem Grund hat Schmidt-Corsitto die Misheel Kids Foundation aufgebaut. Eine Stiftung, die sich für die Zahngesundheit unterprivilegierter Kinder in der Mongolei einsetzt. Sie unterstützt Waisenhäuser und Kindertagesstätten, auch eine Zahnklinik in den Slums der Hauptstadt ist in Planung.
Zweimal im Jahr fährt Schmidt-Corsitto für mehrere Wochen in abgelegene Gebiete. Dort behandelt ihr Team aus mongolischen und Schweizer Zahnärztinnen kostenlos Kinder und unterrichtet Zahnhygiene. In Jurten, Schulen oder Spitälern, wie jetzt in Shargaljuut, richten sie ihre mobile Praxis ein. Die Einsätze werden durch Spendengelder finanziert und entstehen in enger Zusammenarbeit mit der mongolischen Regierung.
Das Leben in der Jurte
Mönkshur winkt ihrer Mutter, bis diese an den Behandlungsstuhl tritt und die Hand ihrer Tochter nimmt. Die Familie wohnt keine fünf Gehminuten vom Spital in einer der vielen weissen Jurten des Dorfs. Nur eine Schotterpiste führt hierher ins Tal, durch Hügel und Hochebenen. Am Horizont ziehen Wolken über schroffe Gebirgszüge, kein Baum weit und breit.
In der Jurte lebt Mönkshur auf wenigen Quadratmetern zusammen mit ihrem grossen Bruder Bohbat (6), ihrer Mutter und ihrem Vater, einem Hirten.
Da sind die beiden Ziegen und das Loch im Boden, draussen neben der Jurte: das Plumpsklo.
Da sind die bunten Knochen auf dem Sofa, Knöchel vom Kamel und Schaf, mit denen Mönkshur und ihr Bruder Shagai spielen. Das mongolische Spiel, bei dem die Knochen möglichst nahe an ein Ziel geworfen werden, ähnlich wie beim Boccia.
Da ist der kleine Ofen in der Mitte des Raums, auf dem ihre Mutter manchmal Buuz dämpft, gefüllte Teigtaschen, oder Suutei Tsai anrührt, den salzigen Milchtee.
Der süsse Wandel
Im Dorf gibt es drei kleine Läden. In ihren Regalen reihen sich Schokobiscuits an Haribo, Coca-Cola an Limonade und zuckrige Säfte. Dazu eine Handvoll Bananen und Kartoffeln, Früchte und Gemüse sind Mangelware. Für Ackerbau ist der mongolische Boden viel zu karg.
Es war der Zerfall der Sowjetunion 1991, der den süssen Wandel in die Mongolei brachte. Plötzlich sahen internationale Marken in der Mongolei Geschäftsmöglichkeiten. Mit Demokratie und Marktwirtschaft gelangten auch immer mehr Schleckwaren und zuckerhaltige Getränke ins Land.
Der Zucker traf auf ein Land aus Nomaden, die sich zuvor fast ausschliesslich von Fleisch, Milchprodukten und Wasser ernährt hatten. Ein Land, in dem Zahnpflege nahezu unbekannt war. Rasend schnell schoss der Karies-Index in die Höhe. Gleichzeitig witterten Zahnkliniken das grosse Geld: Unterlag die Gesundheitsfürsorge im Kommunismus noch dem Staat, privatisierten sich nach dessen Zusammenbruch immer mehr Zahnärzte und zogen nach Ulaanbaatar.
Doch auch die wenigen Kliniken, die in der Steppe blieben, verlangten plötzlich mehr Geld. Viel zu viel für die meisten Nomadenfamilien.
Zähneputzen in der Aula
«Deesh, doosh», sagt Gaby Schmidt-Corsitto auf Mongolisch, wenn sie in der Aula gleich neben dem Spital steht und einem grossen Plastikgebiss die Zähne putzt. «Rauf, runter.» Vor ihr die besetzten Stuhlreihen, hinter ihr ein Gemälde von Dschingis Khan. Dann schauen ihr rund 30 Eltern dabei zu. Sie haben sich herausgeputzt, tragen schillernde Haarspangen und Deel, das traditionelle mongolische Gewand aus schwerer Seide.
Laut Schmidt-Corsitto hängt die Mundgesundheit der Kinder zum grössten Teil von ihren Eltern ab. Kariesbehandlungen seien wichtig, klar. Aber fast noch wichtiger: Prävention. «Die meisten Kinder haben hier zwar eine Zahnbürste, wissen aber nicht, wie man richtig putzt.»
Deshalb stellt sich die Zahnfee in jedem Dorf vor Eltern, Schulklassen und Kindergärten, übt das Zähneputzen und erklärt zusammen mit jemandem aus ihrem Team, was Zucker und Karies anrichten können. Das hat sie schon in vielen Winkeln der Welt getan.
Das Urwaldhospital von Lambaréné
Als sie 25 Jahre alt war, hörte Schmidt-Corsitto in Bern einen Vortrag. Es ging um Albert Schweitzer und sein berühmtes Urwaldhospital in Gabun. Die Dentalhygienikerin wusste sofort: Sie wollte helfen. Und setzte ihren Namen auf die Liste der Freiwilligen.
Drei Monate lang arbeitete sie mitten im Regenwald. Harte Arbeit, medizinische Ausnahmesituationen, schwierige Bedingungen. Manche Patienten kamen in Pirogen über den Fluss, fast zu Tode geschwächt.
Schmidt-Corsitto wurde klar: «Nur» wegen Zahnschmerzen brachten die Eltern ihre Kinder nicht Hunderte Kilometer durch den Dschungel. Also baute sie in Lambaréné eine mobile Zahnklinik auf, besuchte drei Jahre lang mit afrikanischen Zahnärzten entlegene Dörfer.
In Lambaréné lernte sie ihren späteren Mann kennen. Einen Deutschen, der für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) nach Gabun gekommen war. Sein Beruf führte das Paar weiter nach Gambia, Kamerun, Äthiopien, dann nach Guinea. Dort kamen ihre beiden Kinder zur Welt, Schmidt-Corsitto baute kurzerhand einen Kindergarten auf. 2007 wurde ihr Mann zurück nach Deutschland versetzt.
Doch schon bald lockte wieder die Ferne. Ein neues Projekt ihres Mannes in der Mongolei. 2013 kam Schmidt-Corsitto mit den Kindern nach. In Ulaanbaatar wurde sie von der zahnmedizinischen Universität angefragt. Ob sie nicht unterrichten könnte? Schmidt-Corsitto merkte: Auch in der Ausbildung spielte die Zahnpflege hier keine grosse Rolle. Das wollte sie ändern.
Mönkshur hat Glück
Im Spital zuckt Mönkshur zusammen. Ein schlürfendes Geräusch, die Assistentin saugt mit einem dünnen Schlauch Speichel ab. Im Mundspiegel untersucht die Zahnärztin den Mund des Mädchens, pikst ihr mit einer Sonde sanft in die Backenzähne.
Zahn für Zahn beginnen die Milchzähne ab einem Alter von etwa sechs Jahren, den Kindern auszufallen. Weil sie als Platzhalter für die bleibenden Zähne dienen, ist es wichtig, die Milchzähne gut zu pflegen. Entwickeln sie Karies oder müssen gezogen werden, kann es neben Schmerzen später zu Fehlstellungen und Platzmangel kommen. Auch kann Karies die darunterliegenden Zähne zerstören.
Zahn für Zahn beginnen die Milchzähne ab einem Alter von etwa sechs Jahren, den Kindern auszufallen. Weil sie als Platzhalter für die bleibenden Zähne dienen, ist es wichtig, die Milchzähne gut zu pflegen. Entwickeln sie Karies oder müssen gezogen werden, kann es neben Schmerzen später zu Fehlstellungen und Platzmangel kommen. Auch kann Karies die darunterliegenden Zähne zerstören.
«Da!» Die Zahnärztin beugt sich tiefer über das kleine Gesicht. Weil Karies den Zahnschmelz zerstört, sind die befallenen Stellen weicher als bei gesunden Zähnen. Wird ein Loch nicht rechtzeitig repariert, frisst sich die Karies nach und nach durch die gesamte Krone. Die Schmerzen können unerträglich sein.
Mönkshur hat Glück. Nur zwei kleine Löcher. Die Zahnärztin setzt die Spritze für die Betäubung.
«Auswandern klingt immer nach Abenteuer»
Wenn Gaby Schmidt-Corsitto in einem neuen Dorf ankommt, weiss sie nie genau, was sie dort erwartet. Meist schlafen sie und ihr rund 15-köpfiges Team auf dem Boden einer Schule. Keine Dusche, Plumpsklo.
Meistens sind auch ein paar Studentinnen und Studenten für Zahnmedizin aus der Hauptstadt dabei, um Erfahrung zu sammeln. «Die Zähne der Kinder sind fast immer desaströs», hat Schmidt-Corsitto auf der langen Autofahrt hierher gesagt. Dann hat sie aus dem Fenster ins weite Land geblickt.
Als sie vor elf Jahren in die Mongolei kam, dauerte es eine ganze Weile, bis sie sich zurechtfand. «Auswandern klingt immer nach Abenteuer und Freiheit», sagt sie, die Nomadin, die seit 1988 nicht mehr in der Schweiz gewohnt, nur immer wieder Freunde und Familie besucht hat. Auch nach all den Jahren im Ausland klingt das Basler «Jä» durch ihr Schweizerdeutsch.
Abenteuerlich, das sei Auswandern tatsächlich. Doch in erster Linie sei es unglaublich anstrengend. «Sich auf neue Orte einzulassen, braucht immer viel Zeit, Energie und Offenheit für Neues.» Besonders mit Familie eine echte Herausforderung. Kritisiert für die Reisen hätten ihr Sohn und ihre Tochter sie bis heute zum Glück nie, «im Gegenteil».
Inzwischen ist dieses karge, schöne Land ihr Zuhause geworden. An den Wochenenden fährt sie in ihre Jurte etwas ausserhalb der Hauptstadt, führt dort auch Pferdetrekkings durch. Bei einem Spendenritt ist sie im Sommer 2022 einmal quer durch die Mongolei geritten. Ihre Kinder, unterdessen erwachsen, leben und arbeiten in der Schweiz.
Härtere Winter, trockene Sommer: Die Auswirkungen des Klimawandels zwingen in der Mongolei immer mehr Nomaden dazu, ihre Lebensweise aufzugeben und in die Hauptstadt zu ziehen. Schätzungsweise 850'000 Menschen leben dort dicht gedrängt in Jurtenvierteln – das ist mehr als ein Viertel der gesamten mongolischen Bevölkerung.
Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus sind weit verbreitet. Mitten in diesem Viertel plant die Misheel Kids Foundation eine Zahnklinik, um Kinder kostenlos behandeln zu können. Sobald genügend Spenden zusammen sind, geht der Bau los.
Härtere Winter, trockene Sommer: Die Auswirkungen des Klimawandels zwingen in der Mongolei immer mehr Nomaden dazu, ihre Lebensweise aufzugeben und in die Hauptstadt zu ziehen. Schätzungsweise 850'000 Menschen leben dort dicht gedrängt in Jurtenvierteln – das ist mehr als ein Viertel der gesamten mongolischen Bevölkerung.
Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus sind weit verbreitet. Mitten in diesem Viertel plant die Misheel Kids Foundation eine Zahnklinik, um Kinder kostenlos behandeln zu können. Sobald genügend Spenden zusammen sind, geht der Bau los.
Die vergangenen Jahre waren streng, doch Schmidt-Corsitto arbeitet daran, zu delegieren, ihr Team weiter auszubilden, sich hin und wieder zurückzunehmen. Sie sagt: «Das Ziel ist, dass die Projekte eines Tages auch ohne mich weiterlaufen.»
Eine neue Zahnbürste für Mönkshur
Alles ist taub. Mönkshur streicht sich über die rechte Wange. Bohren, Füllung rein, anpassen, aushärten, polieren. Und noch einmal. Tapfer liegt Mönkshur auf der Liege, ihre Augen fest geschlossen, die Hände noch immer zu Fäusten geballt. Bald hat sie ihren ersten Zahnarzttermin überstanden.
Schon wenig später an diesem Nachmittag wird das Mädchen bei sich zu Hause durch die Jurte hüpfen und seiner Familie die geflickten Zähne zeigen. Die Eltern sind erleichtert. Sie waren in der Aula, um mehr über Zahnpflege zu lernen. Jetzt haben sie ihren beiden Kindern neue Zahnbürsten gekauft. Bis das nächste Mal eine Zahnärztin nach Shargaljuut kommt, kann es lange dauern.
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