Die grossen Schweizer Presse-Fotografen unserer Zeit wurden durch ihren Beitrag als Chronisten des Alltags nicht selten selbst zum Objekt der Berichterstattung. Nicht so die BLICK-Fotografen.
Zu Unrecht. Die Nichtbeachtung hat natürlich stark mit dem BLICK und seiner Reputation zu tun. Auch ich hatte der BLICK-Fotografie – jenseits eines professionellen Interesses – lange keine Aufmerksamkeit geschenkt. Bis im Oktober 2017 die Ausstellung «Netzwerk Schweizer Pressefotografie» mit Bildern aus dem Ringier-Bildarchiv im Stadtmuseum Aarau eröffnet wurde und mir einen völlig neuen Zugang zur Fotografie auf dem Schweizer Boulevard verschaffte.
Neuer Fotoband
Boulevard-Bilder ohne Titel sind Kunst
Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen waren die Bilder grossformatig auf hochwertiges, glattes Papier mit einem hohen Weissegrad gedruckt worden. Der andere Grund, der wichtigere, war, dass die Schlagzeile zum Bild fehlte. Die Fotografie stand für sich. Es gab also keinerlei Interpretationsanleitung dazu. Damit wurden die Bilder dekontextualisiert, von ihrem Umfeld der aktuellen Berichterstattung befreit. Die Folge war – wenigstens für mich – eine Explosion ihres Ambivalenzspektrums. Im gängigen Verständnis ein Merkmal von Kunst.
Als ich im April 2018 beim BLICK als Geschäftsführer Digital unter COO Schweiz Alexander Theobald zu arbeiten anfing, kam bald die Frage von Ringier-CEO Marc Walder: «BLICK wird sechzig Jahre alt. Am 14. Oktober 1959 erschien die erste Nummer. Wo sind die Ideen?» Für mich – vielleicht auch, weil ich vor Jahren in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte abgeschlossen hatte – lag es auf der Hand: BLICK muss seine Bedeutung als Chronist der Schweiz anhand seines Fotomaterials aufzeigen. Ein Fotobuch.
Immer hart an der Grenze
BLICK-Fotografen wollten selten einfach nur ein Bild machen, sie wollten mit ihrem Bild eine Story erzählen und nahmen gegebenenfalls entsprechend Einfluss. Möglicherweise sind sie dabei zuweilen an die Grenze des Erlaubten gegangen. Doch entlang welcher Demarkationslinie verläuft diese Grenze? Dieser Diskussion musste sich BLICK in den letzten sechzig Jahren mehr als nur einmal stellen.
Nach dem Selektionsprozess für den Bildband «Blick war dabei» lagen sie dann auf einem grossen Tisch ausgedruckt vor uns: rund 600 Fotografien aus sechzig Jahren. Wir glauben feststellen zu können, dass sich die Linse ab Ende der Sechzigerjahre allmählich vom beinahe volkskundlichen Reportagestil ab- und zum helvetischen Glamour hinwendet. Anfangs eher zaghaft, später beschleunigt.
Das Fernsehen veränderte auch die BLICK-Fotografie
Der Grund hierfür war paradoxerweise das Heranwachsen eines vermeintlichen Konkurrenzmediums, des Schweizer Fernsehens. BLICK erkannte dies jedoch nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Das Schweizer Fernsehen schuf mit seinem Informations- und Unterhaltungsprogramm ein vollkommen neues Inventar an nationaler Prominenz, über das nun berichtet werden konnte. Der People-Journalismus wurde geboren.
Mit der Persönlichkeit, die plötzlich als Identifikationsfigur über der Masse schwebte, kommt auch vermehrt das Genre des Porträts zum Zug. Gehäuft fanden wir Menschen, die in einem inszenierten Setting direkt in die Kamera blicken. Bilder werden vermehrt regelrecht komponiert. In ihrer Aussage überhöht. Die Übertreibung wird zum Stilelement: Das Bild, das Francine Jordi liegend in einer grünen Wiese vor ihrem Haus im Berner Oberland zeigt, erinnert in seiner Künstlichkeit beinahe schon an den Pop-Art-Kitsch eines Jeff Koons.
Und dann kamen die Leserreporter …
Ab 2000 erschienen die ersten Smartphones mit Kamerafunktion auf dem Markt. Anfangs noch vollkommen unbrauchbar, machten sie schon bald den Kauf einer Digitalkamera überflüssig.
Der Leserreporter wurde ab 2005 mehr und mehr zu einem Teil der News-Fotografie. Ungefähr zur selben Zeit verzeichneten die digitalen Medien einen ersten Wachstumsschub. Apples iPhone im Jahr 2007 beflügelte diese Entwicklung zusätzlich. Ab 2010, mit der Einführung von massiv reduzierten Smartphone-Preisen bei Abschluss eines Handy-Abos, gingen die Reichweitenzahlen auf Mobile förmlich durch die Decke.
Nicht zuletzt, weil die Bildstrecke im Repertoire des Online-Journalismus ein gängiges Format ist, stieg die Nachfrage an Bildmaterial in einem dramatischen Mass an – was sich aber nicht zwingend positiv auf die Nachfrage nach professionellen Fotografen auswirkte. Im Gegenteil. Beschäftigte der BLICK in den Neunzigerjahren noch etwa 15 Fotografen, sind es 2019 noch deren fünf.
Hat die Pressefotografie eine Zukunft? Ja
Wo steht die Pressefotografie, die Boulevardfotografie in zehn, in zwanzig Jahren? Sicher ist, dass die Bildnachbearbeitung genauso wie zwanzig Jahre zuvor die Fotografie dramatisch einfacher werden wird. Auch Laien werden ohne Ausbildung oder Photoshop-Spezialwissen Bilder bearbeiten beziehungsweise konstruieren können.
Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass wir am Anfang einer postfaktischen Ära der Fotografie – oder besser der digitalen Bildherstellung – stehen. Die Entwicklung birgt zweifellos grosse Gefahren. Aber genauso bietet sie der Pressefotografie und damit dem Pressefotografen neue Möglichkeiten. Nämlich sein Handwerk dem Publikum als Garant für Echtheit und Glaubwürdigkeit zu verkaufen. Denn für die Beweisführung der journalistischen Präsenz am Ort des Geschehens gibt es wenig bessere Mittel als das von einem professionellen Fotografen gemachte Pressefoto.
BLICK bleibt dabei.
Peter Wälty: BLICK war dabei. 420 Seiten, Leineneinband im Schuber, 24 x 31 cm, Steidl Verlag, 978-3-95829-628-2, ca. CHF 75.00, Erscheinungstermin: 18.11.2019