Für den Durchblick
Milliardenschwere Oligarchen, ministeriale Politiker, militante Schauspieler: Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) ging schon mancher dicke Brocken ins Netz. Feinmaschig hatte er das über all die Jahre gesponnen, mit der Absicht, andere Menschen in Geiselhaft zu nehmen. «Mitgegangen, mitgefangen», heisst es heute für viele. Die britische Journalistin Catherine Belton (47) und frühere Russland-Korrespondentin der «Financial Times» durchleuchtet erstmals Putins Geflecht.
Sachbuch «Putins Netz» (2022) von Catherine Belton
Als Hoffnung
Ein Kinderwagen rollt einige der 192 Stufen von der Innenstadt Odessas zum Hafen runter – dort liegt der Panzerkreuzer Potemkin mit meuternden Matrosen: Durch den Film über einen tatsächlichen Aufstand im Revolutionsjahr 1905 macht der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein (1898–1948) die Potemkinsche Treppe weltberühmt. Und er macht Hoffnung, denn am Schluss zieht der Panzerkreuzer ins Schwarze Meer, ohne dass es zu weiteren Kampfhandlungen kommt.
Spielfilm «Panzerkreuzer Potemkin» (1925) von Sergei Eisenstein
Aus Protest
Rockmusiker Sting (70) hätte nicht gedacht, dass sein Song «Russians» von 1985 jemals wieder eine solche Aktualität erlangen könnte. Doch Putins Krieg rückte den Song mit der Zeile «I hope the Russians love their children too» (ich hoffe, auch die Russen lieben ihre Kinder) wieder ins Rampenlicht. «Angesichts der blutigen und jämmerlich fehlgeleiteten Entscheidung eines Mannes, in ein friedliches, unbedrohliches Nachbarland einzudringen, ist das Lied wieder einmal ein Plädoyer für unsere gemeinsame Menschlichkeit», so Sting auf Instagram.
Song «Russians» (1985) von Sting
Zur Kontemplation
46,45 Millionen Dollar, quasi ein Dollar für jede in der Ukraine lebende Person: So viel bietet ein anonymer Asiate an einer Sotheby’s-Auktion 2015 für das Gemälde «Untitled (Yellow and Blue)» des russischgebürtigen US-Malers Mark Rothko (1903–1970). Der Künstler ist bekannt für solche abstrakte, flächige Ölbilder. Als Rothko 1954 das Werk schuf, dachte er wohl kaum an die Nationalflagge der Ukraine, aber mit seinem zerfliessenden Übergang erinnert es heute an das zerfleddernde Land.
Gemälde «Untitled (Yellow and Blue)» (1954) von Mark Rothko
Als Einblick
«Nur einen Steinwurf entfernt von unserem ehemaligen Zuhause gab es möglicherweise Hunderttausende russische Soldaten.» Das sagt Olenka über ihre Heimatstadt östlich von Donezk. Die Ukrainerin ist die Ich-Erzählerin im neuen Roman der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen (45). Sie schildert ein Land zwischen Geburts- und Kriegsmaschinerie: Da die Frauen, die Eizellen spenden und als Leihmütter Kinder austragen, dort die Männer, die als Kämpfer Leben vernichten. Ein beeindruckendes und bedrückendes Buch.
Roman «Hundepark» (2022) von Sofi Oksanen
Als Warnung
Sie sind lieblich gezeichnet: Jim mit über den Bierbauch gezogener Hose, gehalten von Hosenträgern, Hilda akkurat in Hausfrauenschürze und dicken Pantoffeln, beide mit Stupsnase. Ein bisschen naiv, wie sie aussehen, agieren sie auch: In aller Seelenruhe bereiten sie sich nach Handbuch auf den Atomkrieg vor und bauen einen Schutzraum. Doch ihre Körper zerfallen durch die radioaktive Strahlung mehr und mehr. Eine Warnung, was passiert, wenn im Ukraine-Krieg ein Atomkraftwerk hopsgeht oder Putin den roten Knopf drückt.
Zeichentrickfilm «When the Wind Blows» (1986) von Jimmy T. Murakami
Fürs Verständnis
Um das Jahr 1000 lag die Macht in Kiew, nicht in Moskau, das erst 1147 gegründet wurde: Ukrainer wie Russen berufen sich auf den sogenannten Kiewer Rus, wenn sie ihre Staatlichkeit behaupten. Der Winterthurer Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler (78) zeigt aber auf, dass die beiden Länder zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert eigene Wege gingen – die Russen unter den Mongolen, die Ukrainer als Teil Polen-Litauens. Mit Auswirkungen bis heute: Während Moskau Einflüsse aus Europa abwehrt, orientiert sich Kiew nach Westen.
Sachbuch «Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart» (2017) von Andreas Kappeler
Zum Schmunzeln
Ganz unverhofft auf einem Hügel
sind sich begegnet Fuchs und Igel.
Halt! rief der Fuchs, du Bösewicht!
Kennst du des Königs Order nicht!
Ist nicht der Friede längst verkündigt,
Und weisst du nicht, dass jeder sündigt,
der immer noch gerüstet geht!
Im Namen seiner Majestät,
komm her und übergib dein Fell!
Der Igel sprach: Nur nicht so schnell,
nur nicht so schnell!
Lass dir erst deine Zähne brechen,
dann wollen wir uns weitersprechen.
Und also bald macht er sich rund,
zeigt seinen dichten Stachelbund
und trotzt getrost der ganzen Welt,
bewaffnet, doch als Friedensheld.
Gedicht «Bewaffneter Friede» (1904) von Wilhelm Busch
Lässt aufhorchen
Es ist genau 50 Jahre her, dass der Europarat das Hauptthema des 4. Satzes aus der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven (1770–1827) zur Hymne des Kontinents erklärte. Und nie waren die weniger bekannten Zeilen vor dem Hauptthema wichtiger als heute. «O Freunde! Nicht diese Töne!», singt dort der Bariton, «sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.» Als würde er ins Gewissen der Kriegsparteien reden, deren Bombenexplosionen und Gewehrgeknatter mitten durch Europa hallen.
Musik der «9. Sinfonie» (1824) von Ludwig van Beethoven
Zum Mitfluchen
«Wir halten zusammen, wir lassen uns nicht einschüchtern. (…) Dieselbe Funktion lässt sich am Beispiel des in der Ukraine seit den Anfängen der russischen Aggression populären Anti-Putin-Sprechgesangs Путін хуйло/putin chuilo – Putin ist ein Riesenarschloch – veranschaulichen. Dieser Sprechgesang entstand einen Monat nachdem die Krim annektiert worden war und in der ukrainischen Gesellschaft die Ängste über die Weiterentwicklung der Situation dementsprechend gross waren: Am 30. März 2014 sangen ihn die Fans zweier ukrainischer Fussballklubs – Metalist (Charkiw) und Schachtar (Donezk) – bei einem Protestgang, wonach er sofort starke Verbreitung erfuhr und zum Meme im Internet wurde.»
Aus dem Sachbuch «Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz» (2022) von Oksana Havryliv
Aus Mitgefühl
Stufenbarren gegen Barrikaden: Während sich die ukrainische Turnerin Olga (Anastasia Budiashkina) im Nationalen Sportzentrum in Magglingen BE auf die Europameisterschaften vorbereitet, ist ihre Mutter in Kiew mitten im Euromaidan-Aufstand von 2013/2014. In seinem ersten Langspielfilm zeigt der französische Regisseur Elie Grappe (28) anhand der Turnerin die Zerrissenheit eines ganzen Landes. Die Schweiz schickte den Film nach Hollywood ins Rennen um den besten ausländischen Film – doch er kam nicht in die Kränze. Jetzt gewänne er womöglich gar den Oscar.
Spielfilm «Olga» (2021) von Elie Grappe
Zum Selbermachen
Kaufen Sie einen Strauss gelbe Osterglocken, stellen Sie ihn in einer Vase aufs Fenstersims vor den blauen Frühlingshimmel – die Farbkombination soll an die leidgeplagte Ukraine erinnern und als Friedenszeichen dienen.
Osterglocken (2022) aus einem Blumenladen