Lieber Charles Lewinsky
Was beglückt Sie an Ihrem bevorstehenden 75. Geburtstag? Es ist keine Kreuzfahrt mit Captain's Dinner und kein Altherren-Porsche, wie Sie in Ihrem neuen, amüsanten Buch «Sind Sie das?» bekennen. Und Sie werden am kommenden Mittwoch auch nicht in alten Fotoalben blättern, nur um festzustellen, «dass man bei vielen Gesichtern nicht mehr weiss, zu wem sie gehören». Nein, Sie beglücken sich und uns mit ebendiesem Buch.
Ein Buch über Sie; ein Buch, in dem Sie in Ihrem Dutzend fiktionaler Werke von «Hitler auf dem Rütli» (1984) bis «Der Halbbart» (2020) nach Spuren von sich selber suchen. Ein Sakrileg! Denn bekomme ich als Leser nicht ständig eingebläut, zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor zu unterscheiden? Aber Sie scherten sich noch nie um Konventionen und überraschten dadurch Leserschaft und Literaturkritiker gleichermassen.
Auch mich: Das erste Mal nahm ich Sie als Drehbuchautor der Fernseh-Sitcom «Fascht e Familie» in den 1990er-Jahren wahr. Später begegneten wir uns bei fast jedem Ihrer so unterschiedlichen Bücher und führten Gespräche. «Viele Kulturjournalisten haben Spitzwegs Gemälde ‹Der arme Poet› im Hinterkopf», sagten Sie mir 2006 für das Nachrichtenmagazin «Facts». «Als Autor hat man arm zu sein, das ist das einzig Wahre.»
Alles andere ist offenbar unwahr. Denn als ich 2014 für die «SonntagsZeitung» arbeitete, sagten Sie mir: «Schreiber sind gesellschaftlich akzeptierte Berufslügner.» Eine Aussage, die Sie mir 2019 in einem Interview für den «Blick» wie mit einem biblischen Gebot bekräftigten: «Du sollst nicht lügen, ausser du bist Schriftsteller, dann wird es von dir erwartet.» Tatsächlich? Sind Sie das?
Das sind Sie: Germanist, Regisseur und Dramaturg; Autor von 30 Hörspielen, 500 Liedtexten und tausend TV-Shows; Sieger des Grand Prix der Volksmusik 1987 mit «Das chunnt eus spanisch vor» für Maja Brunner, Gewinner des Preises der Schweizerischen Schillerstiftung 2001 für den Roman «Johannistag» und drei Mal in der Schlussrunde für den Schweizer Buchpreis – diese Auszeichnung würde Ihnen schon lange zustehen.
Doch Sie sind ein Tausendsassa und ein Hansdampf in allen Gassen. Nach Ihrem Erfolg mit dem grossen Generationenroman «Melnitz» (2006) sagten Sie mir: «In der Schweiz bin ich jetzt zum dritten Mal berühmt geworden: Zuerst war ich der Volksmusikguru, danach der Sitcom-Master, und nun gelte ich etwas in der Literatur.» Und wie es so ist mit Multitalenten: Man neidet ihnen den Erfolg und lässt sie darben.
Aber vielleicht ist es eine Form des Erfolgs, wenn ein Lewinsky von einer Journalistin nach seinen Romanen befragt wird. Sind Sie das? Nein, es ist Ihr Sohn Micha (48), der keine Bücher schreibt, sondern Filme macht – doch die unbedarfte Journalistin meinte, Sie vor sich zu haben. Na, immerhin darf man also behaupten, dass man Ihnen Ihr Alter nicht ansieht und man Sie für jünger hält.
In diesem Sinn: Bleiben Sie juvenil und agil!
Herzlich Ihr Daniel Arnet
Charles Lewinsky, «Sind Sie das? Eine Spurensuche», Diogenes