Von der Kurzgeschichte zum umfangreichen Roman, vom Hörstück zum Schauspiel, von der Rede zum Essay: Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) spielte auf der ganzen literarischen Klaviatur und brachte es in den meisten Bereichen zur Meisterschaft.
Doch was bleibt? Jetzt, kurz vor seinem 30. Todestag und seinem 100. Geburtstag, rückt das Gesamtwerk Dürrenmatts wieder stärker in den Fokus. BLICK sagt Ihnen, welche Meisterwerke Sie jetzt unbedingt (wieder) lesen müssen.
Die Kurzgeschichte
Seit die Züge zwischen Bern und Zürich über die Hochgeschwindigkeitsstrecke flitzen, kommen sie nicht mehr durch den gut 500 Meter langen Tunnel bei Burgdorf BE, den Handlungsort von Dürrenmatts Erzählung «Der Tunnel» (1952). Hier beweist der Dichter seinen Sinn fürs Surreale: Der Zug fährt ins Loch und kommt nicht mehr raus. Stattdessen rast er zum Erdmittelpunkt. «Was sollen wir tun?», schreit der Zugführer. «Nichts», lautet das fatalistische Schlusswort. Dürrenmatt-Biograf Ulrich Weber bilanziert: «Erzählungen wie ‹Der Tunnel› oder ‹Die Panne› finden sich in unzähligen Anthologien der deutschsprachigen Erzählliteratur.» Zu Recht!
Das Theaterstück
Die Milliardärin Claire Zachanassian macht Dürrenmatt reich, bringt ihm Weltruhm. «Der Besuch der alten Dame» (1956) handelt von der Rache Zachanassians an ihrem früheren Liebhaber und der Käuflichkeit der Dorfbevölkerung von Güllen. «Zu jedem Zeitpunkt gäbe es für jeden die Möglichkeit, nicht mitzumachen, aber jeder versteckt sich vor der Verantwortung im Kollektiv», schreibt Weber in der nächste Woche erscheinenden Biografie. «‹Der Besuch der alten Dame› und ‹Die Physiker› halten sich dauerhaft auf den internationalen Spielplänen, die Bearbeitungen reichen vom Broadway-Musical bis zum chinesischen Comic-Strip.»
Das Hörspiel
In der Nachkriegszeit mit den vielen Kriegsblinden haben dramatische Radiobeiträge Hochkonjunktur. Deshalb schreibt Dürrenmatt «Die Panne» (1955/56) zugleich als Erzählung und Hörspiel: Der Textilvertreter Alfredo Traps muss wegen seines defekten Autos im Haus eines pensionierten Richters übernachten. Traps nimmt an der Tischrunde mit einem Staatsanwalt, einem Verteidiger und einem Henker teil. Der Vertreter erhält die Rolle des Angeklagten – und wird nach einem durchzechten Abend prompt zum Tod verurteilt. Während sich Traps in der Erzählung erhängt, ist im Hörspiel nach ausgeschlafenem Rausch alles wieder gut.
Der Roman
Und wieder arbeitet Dürrenmatt zweigleisig. Nachdem er die Drehbuchvorlage für den Spielfilm «Es geschah am helllichten Tag» (1958) mit Heinz Rühmann (1902–1994) in der Hauptrolle geschrieben hat, beschliesst er, aus dem Material einen Kriminalroman zu schreiben: «Das Versprechen» (1958). Kommissär Matthäi verspricht darin einer Mutter, den Mord an ihrer Tochter aufzuklären – ein komplexes Unterfangen. «Kriminalromane wie ‹Der Richter und sein Henker›, ‹Der Verdacht› und ‹Das Versprechen› gehören zum Lektürekanon deutschsprachiger Schulen», schreibt Weber. Dafür gibt es eine glatte 6!
Die Novelle
Die profane Aufklärung eines Mordes steht auch in diesem Spätwerk im Mittelpunkt, doch formal geht Dürrenmatt ganz neue Wege. So schreibt Weber in der Biografie: «Bezüglich seiner späten Novelle ‹Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter› (1986) bekannte er schliesslich, sie sei mit ihren 24 Kapitel-Sätzen (jedes Kapitel besteht aus einem Satz) durch Bachs ‹Wohltemperiertes Klavier› angeregt.» Der musikalische Schlusspunkt eines grossen Virtuosen.