Der Erfolg der «Alten Dame» bescherte Dürrenmatt einen Wohlstand, der ihn schockartig, wenn auch verzögert, erreichte: Noch ein Jahr nach der Uraufführung, im März 1957, als das Stück in Paris die französische Erstaufführung erlebte, war er hoch verschuldet. Über einen Freund hatte er von einem Grossindustriellen immerhin 3000 Franken fürs Dringendste erhalten und versuchte nun, seinen deutschen Theaterverleger Haensel (Felix Bloch Erben) um 15'000 Franken anzupumpen, um daraufhin zu erfahren, dass ihm 60'000 Schweizer Franken an noch nicht ausbezahlten Tantiemen zustünden, was immerhin etwa dreieinhalb Jahresgehältern seines Vaters als Pfarrer vor dessen Pensionierung am 1. Juli 1948 entsprach. «Plötzlich hatte ich so viel Geld, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.»
In jedem Autor steckt ein Auto: Seit es Motorfahrzeuge gibt, sind Schriftsteller von ihnen angetan. Der Deutsche Thomas Mann (1875–1955), noch vom Kutschen-Zeitalter geprägt, liess sich «fortan 33-pferdig» in einem Fiat durch die Stadt fahren. Der Italiener Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) drückte bei seinem Fiat selber aufs Gas. Tempo, Tempo! Die Geschwindigkeit war das neue Rauschmittel, jene Droge, die gemäss Aldous Huxley (1894–1963) im 20. Jahrhundert neu entdeckt wurde. Auch Schweizer Autoren haben es schnelle Autos angetan: Hermann Burger (1942–1989) liebte Ferraris, und Bestsellerautor Martin Suter (72) kurvt mit einem Porsche durch die Strassen. Der Doyen der Schweizer Literatur, Max Frisch (1911–1991), liebte es nicht minder kraftvoll, setzte sich aber wie ein Lord in einen Jaguar. Daniel Arnet
In jedem Autor steckt ein Auto: Seit es Motorfahrzeuge gibt, sind Schriftsteller von ihnen angetan. Der Deutsche Thomas Mann (1875–1955), noch vom Kutschen-Zeitalter geprägt, liess sich «fortan 33-pferdig» in einem Fiat durch die Stadt fahren. Der Italiener Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) drückte bei seinem Fiat selber aufs Gas. Tempo, Tempo! Die Geschwindigkeit war das neue Rauschmittel, jene Droge, die gemäss Aldous Huxley (1894–1963) im 20. Jahrhundert neu entdeckt wurde. Auch Schweizer Autoren haben es schnelle Autos angetan: Hermann Burger (1942–1989) liebte Ferraris, und Bestsellerautor Martin Suter (72) kurvt mit einem Porsche durch die Strassen. Der Doyen der Schweizer Literatur, Max Frisch (1911–1991), liebte es nicht minder kraftvoll, setzte sich aber wie ein Lord in einen Jaguar. Daniel Arnet
Dürrenmatt zelebrierte die Wende genussvoll. Er konnte sich nun einen eigenen Wagen leisten. Schon ab Juli 1956 nahm er Fahrunterricht, allerdings bestand er die Prüfung erst im zweiten Anlauf am 23. November 1956 (Ehefrau Lotti konnte bereits vor ihm fahren). Ähnlich wie bei Alfredo Traps, dem Textilvertreter aus der «Panne», spiegelt sich Dürrenmatts Aufstieg in seinen Fahrzeugen wider: Sein erster Wagen war ein Opel Rekord, bald darauf folgte ein grösserer Opel Kapitän und schon 1959, vielleicht vom US-Aufenthalt im gleichen Jahr inspiriert, ein geflügeltes amerikanisches Strassenschiff, das unübersehbar Reichtum signalisierte: ein Chevrolet Bel-Air. Es folgten weitere Chevrolet-, Buick-, Volvo- (die letzten beiden als Zweitautos für Frau und Sohn) und schliesslich Jaguar-Modelle.
«Die Panne» säumt seinen Weg als Autofahrer
Zwar waren Pannen schon vor Beginn der eigenen Fahrpraxis ein literarisches Thema, wie in der Erzählung mit dem entsprechenden Titel nachzulesen: «So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit, kein Fatum wie in der fünften Symphonie, sondern Verkehrsunfälle, Deichbrüche infolge Fehlkonstruktion, Explosion einer Atombombenfabrik, hervorgerufen durch einen zerstreuten Laboranten, falsch eingestellte Brutmaschinen. In diese Welt der Pannen führt unser Weg.»
Doch ist die Rolle von Unfällen und Pannen als zentralen Motiven seines Schreibens vor einem ganz konkreten biografischen Hintergrund zu sehen: Dürrenmatt war ganz offensichtlich ein miserabler Fahrer. Unter anderem in seinen Taschenkalendern sind diverse Spuren einer zweifelhaften Automobilistenkarriere zu finden. Etwa 10 Autounfälle grösseren und kleineren Ausmasses, wenn auch nicht immer durch Dürrenmatt verschuldet – und glücklicherweise ohne Opfer – , säumen seinen Weg, einzelne davon hat er auch beschrieben: Am 25. März 1957 fuhr er auf dem Weg zum Treffen mit Lazar Wechsler in Wohlen im Aargau mit seinem Opel Rekord ein Kind an – ein Unfall, der Dürrenmatt, obwohl das Kind unverletzt blieb und ihn als Fahrer gemäss Polizeibericht keine Schuld traf, noch in den Stoffen beschäftigte. Die Darstellung in der Autobiografie lässt zugleich unterschwellig das Motiv des Autounfalls im Roman «Das Versprechen» anklingen. Einen seiner Automobilunfälle beschreibt Dürrenmatt in «Sätze zum Theater» (1971) und legt ihn als Modellfall für sein Wirklichkeitsverständnis aus:
Getöse, Klirren, Totenstille
An einem Maitage des Jahres 1959 lief mir morgens das Schreiben nicht. Lustlos, mich am Schreibtisch herumzuquälen, beschloss ich eine Fahrt ins Blaue. Über Murten gelangte ich zu einem Gasthaus im Greyerzerland, nicht weit vom Genfersee, wo ich zu Mittag ass. Eigentlich wollte ich nach Hause zurückkehren, doch gutgelaunt nach einer vortrefflichen Forelle beschloss ich, ins Wallis zu fahren, etwas Wein einzukaufen. Heisses Frühlingswetter.
Mein Wagen war schnell [der Zweitwagen, ein sportlicher Chevrolet Monza Corvair], doch fuhr ich gemächlich, ich hatte Zeit. In Vevey verfuhr ich mich, später geriet ich hinter eine Lastwagenkolonne, nach Aigle vermochte ich sie zu überholen, dann fuhr ich gegen Bex. Vor mir lag ein kleiner Eselsrücken, von dem aus ich die Strasse weit überblicken konnte. Sie verlief gerade, um dann eine weite Rechtskurve zu vollziehen. Etwa dreihundert Meter vor mir rollte ein Lastwagen mit Arbeitern, in der fernen, übersichtlichen Kurve näherte sich ein Personenwagen. Ich überlegte kurz, ob ich den Lastwagen noch überholen wolle, mein Wagen war schnell genug, doch entschloss ich mich zur Vorsicht, ich drosselte die Geschwindigkeit meines Wagens und fuhr hinter dem Lastwagen mit den Arbeitern, in der Absicht, den Personenwagen, den ich von weitem hatte kommen sehen, vorbeizulassen.
Da bog unerwarteterweise der Lastwagen vor mir nach rechts in einen Feldweg ein, der zu einem Bauplatz führte. In diesem Augenblick geschah das Unglück. Ich sah im Rückspiegel einen rasch sich nähernden Wagen, der offenbar, bevor der Lastwagen abzweigte, den entgegenkommenden Wagen nicht bemerkte. Die beiden Wagen krachten auf meiner Höhe zusammen, mein Wagen wurde vom Zusammenprall erfasst, über die Strasse ins Feld geworfen, wo er aufrecht zu stehen kam. Zum Glück war ich angeschnallt. Ein Getöse, ein Klirren, Totenstille. Dann Schreie, viel Blut, zwei blutüberströmte Männer, die aufeinander einschlugen, im ganzen fünf Schwerverletzte. […]
Betrachtet man den Unfall dramaturgisch, so setzt er sich auf den ersten Blick aus lauter Zufälligkeiten zusammen. Natürlich vermag ich die Kette der Zufälligkeiten nur von meiner Seite aus festzustellen: Ich hätte zu Hause bleiben können, ich hätte länger oder kürzer essen können, ich hätte überhaupt nicht ins Wallis, oder: langsamer, oder schneller fahren können, ich hätte mich in Vevey nicht verfahren müssen, usw. Eine ähnliche Kette von Zufälligkeiten liesse sich bei den anderen am Unfall beteiligten Wagen aufstellen. […] Je näher der Zeitpunkt am Unfall liegt, desto wahrscheinlicher, je weiter der Zeitpunkt zurückliegt, desto unwahrscheinlicher kommt es zum Unfall, so dass wir die Definition wagen dürfen, die Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist.
Ulrich Weber, «Friedrich Dürrenmatt – eine Biographie», mit Bildteil, Erscheinungstermin: 23. September 2020
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