Auf einen Blick
«Ich plane eine Reise und packe in meinen Koffer …» Das beliebte Merkspiel hat Katharina Morello (59) als junge Mutter in echt gespielt. Mit zwei kleinen Kindern zogen sie und ihr Mann für ein Jahr nach Simbabwe. «Viel Platz für Bücher gab es im Gepäck nicht, ich musste mich für eines entscheiden und nahm einen Band der Grimmschen Märchen mit.» Die Geschichten erzählte sie ihren Kindern vorwärts und rückwärts. «Dann begann ich, afrikanische Märchen zu sammeln, in denen häufig Tiere mit menschlichen Charakterzügen die Hauptrolle spielen.»
Zurück in der Schweiz machte sich die Zürcherin auf die Suche nach Schweizer Märchen. Gerade ist ihr Kinderbuch «Meine Schweizer Märchen» in einer Neuauflage erschienen. Im Gespräch verrät die Autorin, wie viel Böses eine Kindergeschichte verträgt und was sie von modernen Märchenerzählungen hält, in denen die Prinzessin sich kurzerhand selbst rettet, statt auf einen Prinzen zu warten.
Katharina Morello, was unterscheidet Schweizer Märchen von unseren Sagen?
Katharina Morello: Die Grenzen sind fliessend. Märchen brauchen fantastische Elemente: sprechende Tiere, verzauberte Personen, Hexen, Riesen oder Zwerge. Weil sie einer Fantasiewelt entstammen, sind Märchen Geschichten, die zeit- und ortsunabhängig spielen, während Sagen oft klar an eine Region gebunden sind.
Widerspricht das nicht dem Konzept Ihres Buchs, in dem Sie Märchen aus jedem Schweizer Kanton vorstellen?
Nicht unbedingt. Die Geschichten, die ich in den Archiven gefunden habe, sind nicht zwingend an einen Ort gebunden, jedoch enthalten sie oft Lokalkolorit. In «Der Fuchs und die Schnecke», einer Erzählung aus Appenzell Ausserrhoden, kommt die Schwägalp namentlich vor. Der Kanton Zug hat mit den «Herdmänndli» ganz eigene Märchenfiguren geschaffen. Und während in der Westschweiz oft Feen gute Taten vollbringen, verkörpert im Tessin, wo der Katholizismus eine grosse Rolle spielte, die Madonna oft das Gute.
Auch das Böse kommt in jedem Märchen vor …
Natürlich. Eine gute Geschichte braucht eine gewisse Spannung – es können nicht alle immer nur brav sein, das wäre langweilig.
Im Solothurner Märchen «Die einzige Tochter» droht ein König, seine sieben Söhne umzubringen – ist das kindertauglich?
Diese Geschichte ist tatsächlich ein starkes Stück! Doch sie zeigt, was man tun kann, wenn einem etwas wirklich Böses begegnet. Die Mutter schützt ihre Söhne, die Schwester sucht ihre Brüder... Zudem glaube ich, dass Märchen etwas sind, das Kinder in Begleitung entdecken sollten. Wenn ich einem Kind ein solches Märchen vorlese, kann ich auf mögliche Fragen oder Ängste reagieren. Und ich habe die Möglichkeit, die Geschichte dem Kind anzupassen. Jede erzählende Person ist Herr oder Herrin über das Märchen. Man muss sich nicht sklavisch an eine Vorlage halten. Und Märchen eignen sich sehr gut dafür, Themen aus der realen Welt aufzugreifen, in der ja auch nicht alles nur gut und friedlich ist.
In der Realität kommt kein Prinz, um mich zu retten. Zementieren Märchen nicht überholte Rollenbilder?
Es gibt ja Märchen-Parodien, die die alten Rollenbilder auf lustige Weise umdrehen. Das gefällt mir. Aber auch in den Schweizer Märchen gibt es starke Frauenfiguren. Im Juramärchen «Vom Fröschlein mit dem roten Halsband» ist ein Mädchen die Heldin, die alle rettet. Und in «Der verliebte Esel» aus dem Kanton St. Gallen hauen die Frauen ordentlich auf den Putz. Es stimmt, dass veraltete Rollenbilder in Märchen stark vertreten sind, aber man kann Kindern auch erklären, dass viele Märchen aus einer Zeit stammen, in der die Gesellschaft noch anders funktionierte.
Gab es Dinge, die Sie in Ihrer Nacherzählung der Schweizer Märchen verändert haben?
Ja. Manche Geschichten waren mir zu derb, solche Stellen habe ich etwas abgeschwächt. Und ein Märchen aus Graubünden, in dem ein gruseliger Menschenfresser vorkam, schaffte es nicht in die Auswahl, weil es dem Verleger zu brutal erschien. Wobei ich fest der Überzeugung bin, dass Kinder auch mit struben Geschichten umgehen können, wenn man sie dabei begleitet.
Märchen wie der «Struwwelpeter» spielen gezielt mit der Angst als erzieherische Massnahme.
Ich finde es problematisch, Kindern Angst zu machen, um sie zu bestimmtem Verhalten zu bewegen. Märchen dürfen Werte vermitteln, aber moralsaure Drohungen sind für mich ein No-Go.
Haben Schweizer Märchen einen gemeinsamen Nenner, der sie besonders macht?
Beim Sammeln fiel mir auf, dass Schweizer Märchen oft einen besonderen Witz haben. Die Schweiz ist zwar nicht unbedingt für ihren Humor bekannt, aber in diesen Geschichten begegnet mir immer wieder ein Augenzwinkern.
Wo spürt man Sie als Autorin in den Märchen?
Jedes Märchen ist in meiner Sammlung etwa drei Seiten lang. Die Vorlagen waren von unterschiedlicher Länge – manche episch, andere musste ich ausdehnen, weil nur ein kleiner Teil erhalten war. Ich denke, am meisten spürt man mich in den eher schlichten Sätzen und der Pointe, die am Schluss immer etwas zum Schmunzeln oder Nachdenken hinterlässt.