Zum Schluss gibt es nochmals einen Paukenschlag: Am 11. November 1990 hält Friedrich Dürrenmatt in Rüschlikon ZH die Laudatio auf den tschechischen Schriftsteller und späteren Politiker Vaclav Havel (1936–2011), der in Abwesenheit den Gottlieb-Duttweiler-Preis erhält.
In Anspielung auf Havels Dissidentenjahre und als Parallele zum eben aufgedeckten eidgenössischen Fichenskandal entwirft Dürrenmatt das Bild des «Gefängnis Schweiz»: «Als ein freilich ziemlich anderes, als es die Gefängnisse waren, in die Sie geworfen wurden, lieber Havel, als ein Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben.»
Die Schweiz, ein freiwilliges Gefängnis: ein happige Provokation! Doch Dürrenmatt hat die Narrenfreiheit, ist zu dieser Zeit der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete und gefeierte Autor. Und zu seinem bevorstehenden 70. Geburtstag sind weitere Feiern geplant. Doch dazu kommt es nicht mehr: Dürrenmatt stirbt am 14. Dezember 1990 in seinem Haus in Neuenburg an einem Herzversagen – wie seine erste Frau Lotti (1919–1983).
Statt Geburtstags- stehen nun Trauerfeiern an. Die Witwe Charlotte Kerr (1927–2011) inszeniert in Neuenburg eine groteske Soloshow. «Mit ihrer Art der Abschiedsinszenierung stiess Charlotte Kerr noch einmal einige vor den Kopf», schreibt Biograf Ulrich Weber. Gesitteter geht es an der öffentlichen Abschiedsfeier im Berner Münster zu und her, wie folgender Vorabdruck zeigt. Aber auch dort kommt es nochmals zu einem Rencontre.
Vorabdruck: Sogar beim Abschied gabs Theater
Noch einmal hatte Dürrenmatt einen Auftritt in der Weltöffentlichkeit – Nachrufe erschienen in allen grossen internationalen Zeitungen, oft Erinnerungen an eine längst verblasste Theaterepoche der 1950er- und 1960er-Jahre, bei den Informierteren auch mit Blick auf das Prosawerk des letzten Lebensjahrzehnts.
Am 6. Januar 1991 fand im Schauspielhaus Zürich eine Gedenkfeier statt, die ursprünglich als Feier zum 70. Geburtstag geplant war. Schauspielerinnen und Schauspieler lasen aus Dürrenmatts Werk, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hielt eine Rede, würdigte den Autor, die Dramen, die Essays bis zum kapitalen Werk der «Stoffe». «Friedrich Dürrenmatt: das ist Weltliteratur in unserem zwanzigsten Jahrhundert: eine schöpferische Totalität, worin das Versuchshafte genauso seine Stelle hat wie das heute bereits klassische Werk. Die Welt ausserhalb deutscher Sprachgrenzen hat dieses Phänomen vielleicht früher und genauer verstanden als die literarische Zunft, die stets versucht hat, diesen grossen Irrläufer einzuordnen.»
Alles bleibt ein Entwurf
Und es gab doch noch eine öffentliche Trauerfeier: Am 11. Januar 1991 im prallvollen Berner Münster. Dürrenmatts einstiger Schulkamerad Kurt Marti sprach als Pfarrer, Bundesrat Flavio Cotti als offizieller Vertreter der Schweiz, die Schriftstellerkollegen Wolfgang Hildesheimer, Hugo Loetscher, Adolf Muschg und Urs Widmer lasen aus Dürrenmatts Werk, Walter Jens hielt eine letzte Laudatio. Der Tübinger Professor, ein Freund Charlotte Kerrs, ging konsequent vom Spätwerk aus, von Dürrenmatts Ansinnen, zu Hause im Emmental und unter den Sternen «noch einmal das Grosse Gesamt sichtbar zu machen».
Er sprach von einem Schreiben in «Widersprüchlichkeit und Ambivalenz eines Entwurfs, der niemals ‹fertig› ist», von einem Schreiben und Denken im «Willen, niemals festgelegt zu sein». Und er endet mit den Worten: «Wäre ich ein Pfarrer, dann würde ich den Satz aus der Dankrede nach der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille anschliessen: ‹Sich in dieser Welt nicht zu fürchten, ist vielleicht die Botschaft, die uns nicht die Vernunft, sondern nur jene verheissungsvolle Fähigkeit geben kann, die wir – etwas verlegen – Glauben nennen.› Aber ich bin kein Pfarrer, und darum sage ich nur: Das Gespräch mit Dürrenmatt, ein niemals endender Dialog, wie er ihn, jahrzehntelang, mit Shakespeare, Kierkegaard oder Schiller geführt hat, insistierend und demütig, lernbereit, provozierend und trotzdem zum Eingeständnis des Scheiterns bereit – dieser Dialog ist nicht zu Ende: er beginnt erst, und wir werden Mühe haben, in Friedrich Dürrenmatts mächtigem Schatten, ihn zu bestehen.»
Eklat im Berner Münster
Auch diese Trauerfeier ging nicht ohne Misstöne vonstatten, Ruth Dürrenmatt war empört, als sie sah, dass Charlotte Kerr einen Ring trug, den sie, Ruth, selbst für ihre Mutter gestaltet hatte. Beim Hinausgehen aus dem Münster forderte sie sie auf, ihn abzuziehen, und es kam zu einem heftigen Wortwechsel.
Die Urne liess Charlotte Kerr auf Dürrenmatts Wunsch unter der Trauerbuche im Garten am Pertuis-du-Sault vergraben. Nicht wissend, dass dort bereits Lottis Asche lag, verfügte sie 2011 vor ihrem eigenen Tod, dass auch ihre Asche dort, bei Fritz, begraben sein sollte.
So sind denn alle drei dort vereint – Charlotte Kerr als die Unwissende, die gewiss das Gegenteil dessen erreicht hat, was sie wollte –, wenn es denn so ist, hat doch Dürrenmatt auch in diese letzte Geschichte über seinen Tod hinaus eine Ungewissheit eingebaut, indem er seinem Sohn erzählte, er habe Lottis Asche im Wald oberhalb des Hauses verstreut.
Ulrich Weber, «Friedrich Dürrenmatt – eine Biographie», mit Bildteil, Erscheinungstermin: 23. September 2020
©2020 by Diogenes-Verlag AG Zürich
Buchpremiere am 28. Oktober 2020 in der Nationalbibliothek, Bern