Herr Galli, warum wollen Sie Gefängnisse abschaffen?
Thomas Galli: Weil sie der Gesellschaft unterm Strich mehr schaden als nützen.
Weswegen?
Weil sie zum Beispiel davon ablenken, dass wir langfristig und präventiv etwas gegen die Umstände tun müssten, die Menschen ins Gefängnis bringen. Ich hatte während meiner Arbeit im Strafvollzug mit vielen Häftlingen zu tun, die überhaupt keine Schwerkriminelle waren. Sie sassen wegen Drogengeschichten ein, die sie meist aufgrund ihrer eigenen Sucht begingen, wegen Diebstahl oder körperlichen Auseinandersetzungen. Man sollte sich lieber mit den Milieus beschäftigen, aus denen sie stammen.
Was müsste man an den Milieus ändern, damit weniger Zugehörige ins Gefängnis kommen?
Die Forschung hat zum Beispiel gezeigt, dass rechtsradikale Straftäter weit überwiegend ohne Vater aufgewachsen sind. Als Konsequenz sollte man alleinerziehende Mütter stärker unterstützen. Das würde langfristig die Quote rechtsradikal motivierter Straftaten reduzieren.
Ihre Lösungsvorschläge klingen gut, aber auch sehr idealistisch.
Ich weiss, dass man Gewalt nicht ausmerzen kann. Doch das Ziel der Justiz und des Strafens muss schon sein, Kriminalität zu reduzieren. Das erreicht man definitiv nicht, in dem man Menschen wegen leichten Vergehen ins Gefängnis steckt, wo sie erst recht kriminell werden und danach stark rückfallgefährdet sind.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Nehmen wir «Boris», dessen Geschichte ich in meinem neuen Buch beschreibe. Er kommt aus schwierigen Verhältnissen, wächst bei seinem kaltherzigen Vater auf. Trotz Drogenproblemen lässt er sich zum Kfz-Mechaniker ausbilden. Er lernt eine Frau kennen und wird Vater. Um seinen Eigenbedarf zu finanzieren, beginnt Boris mit Drogen zu handeln. Einmal schlägt er einen Türsteher mit der flachen Hand ins Gesicht. Boris landet in Haft, seine Partnerin trennt sich von ihm und will nicht, dass er seinen Sohn sieht.
Wie reagiert er?
Er rutscht völlig in die Subkultur des Gefängnisses ab, wird positiv auf Drogen getestet und ist in Schlägereien mit Mitgefangenen verwickelt. Jedes Mal muss er diszipliniert werden, manchmal mit isolierter Einzelhaft. Bei seiner Entlassung wird Boris die Steuerzahler 100'000 Euro gekostet haben. Er wird hoch verschuldet und eine erhebliche Zeit auf Sozialleistungen angewiesen sein. Das heisst nicht, dass ich dagegen bin, ihn zu strafen. Ich würde es einfach anders machen.
Wie denn?
Boris könnte seine Haftzeit im elektronisch überwachten Hausarrest verbüssen, wie das in der Schweiz für kürzere Freiheitsstrafen bereits möglich ist. Er wäre zu Hause bei seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn und dürfte das Haus verlassen, um seiner Arbeit nachzugehen.
Dürfte er seinen Lohn behalten?
Einen Teil davon müsste er als Schmerzensgeld an die Geschädigten seiner Körperverletzungen zahlen. Daneben müsste er gemeinnützige Arbeit in einer Klinik für schwer suchtkranke Menschen leisten, an einem Anti-Gewalt-Training und einer suchttherapeutischen Massnahme teilnehmen. Dem Türsteher müsste er für ein Gespräch vor die Augen treten, falls dieser das will.
Hausarrest wird oft als zu wenig abschreckend kritisiert.
Auch Gefängnisstrafen sind weit weniger abschreckend als angenommen. Was eine viel grössere Rolle spielt, ob jemand etwas tut oder nicht, ist die Wahrscheinlichkeit, dabei erwischt zu werden. Zurzeit sind in Deutschland Fälle von Kindesmissbrauch in den Schlagzeilen. Die Politik führt jetzt härtere Strafen für diese Art von Tat ein. Das wird keine einzige verhindern. Selbst die Todesstrafe führt erwiesenermassen nicht dazu, dass Kriminalität zurückgeht. Ich würde sogar sagen, dass sie das Gegenteil bewirkt.
Wie meinen Sie das?
Sie trägt zur gesellschaftlichen Verrohung bei, weil der Staat ein ganz schlechtes Beispiel abgibt, wenn er sagt, dass es Fälle gibt, in denen es notwendig, sinnvoll und gerechtfertigt sein kann, jemanden bewusst umzubringen.
Sie waren zu Beginn Ihrer Karriere lange Zeit Abteilungsleiter der Justizvollzugsanstalt Straubing. Dort sind 800 Menschen stationiert, die Mehrheit davon sitzt lebenslange Haftstrafen ab respektive befindet sich in Sicherungsverwahrung. Sie halten es nicht immer für sinnvoll, schwere Fälle zu therapieren. Warum nicht?
Es gibt Häftlinge, die wahrscheinlich immer wieder morden, vergewaltigen oder quälen würden. Dass zum Beispiel Täter, die aus sexuellen Motiven Kinder töten, über Jahrzehnte für Millionen intensiv therapiert werden, halte ich für lebensfern und naiv. Es ist mir kein Psychologe bekannt, der sagt, dass die Aussichten auf Heilung gut sind. Hier bin ich strikter als die offizielle Linie und würde von Anfang an sagen: Du kommst nie wieder in Freiheit.
Für diese Art von Kriminellen stellen Sie sich eine Art Dorfgemeinschaft vor.
Ich würde auch sie menschenwürdig behandeln. Es wird kein Opfer wieder lebendig, wenn wir Menschen leiden lassen. Anstatt sie für Jahrzehnte in einem kleinen Haftraum im Hochsicherheitstrakt unterzubringen, könnten diese Täter in Wohnsiedlungen oder auf Inseln leben, die gegen Fluchtversuche gesichert sind. Innerhalb der Siedlungen würde Justizpersonal für Sicherheit sorgen.
Also eigentlich wie im Gefängnis?
Mit dem Hauptunterschied, dass sich die Häftlinge in einem definierten Bereich frei und selbstbestimmt bewegen könnten. Und sie die Opfer finanziell entschädigen müssten.
Mit welchem Geld?
Demjenigen, das sie in den Arbeitsbetrieben der Einrichtungen verdienen würden. Die Opfer oder deren Hinterbliebene hätten zudem Anspruch auf lebenslange staatliche Solidarität in Form von finanzieller und therapeutischer Unterstützung.
Was würde das kosten?
Sicher deutlich weniger als derzeit der Strafvollzug oder die Sicherungsverwahrung. Die Kosten für die jahrzehntelangen Therapien betragen in Deutschland pro Person im Durchschnitt sicher 300 Euro pro Tag.
Sie beschäftigen sich mit der Art, wie wir mediale Berichterstattung über Straftaten wahrnehmen. Was geht Ihnen bei folgender Schlagzeile durch den Kopf? «Messerangriff in Luzern: Somalier (29) verletzt Tunesier (29) lebensgefährlich.»
Wenn ich mir vorstelle, wie einer auf jemand anderen mit einem Messer einsticht, verstört mich das zutiefst. Dann kriege ich eine Wut auf den Täter und denke impulshaft: Den muss man erwischen und bestrafen. Wenn ich mehr zum Täter wüsste, würde ich vielleicht ganz anders denken.
Was könnte Sie dazu veranlassen?
Es könnte sein, dass der Aggressor eigentlich der Geschädigte ist, der vom Opfer bedrängt wurde, bis er sich nicht mehr anders zu helfen wusste als zuzustechen. Vielleicht kommt er aus traumatisierenden Umständen, musste als Kind vor dem Krieg fliehen. Das ist nichts, was solch eine Tat jemals rechtfertigen würde, rückt sie aber doch ein Stück weit in ein anderes Licht. An den Storys hinter den Schlagzeilen merkt man, wie wichtig es ist, strafrechtlich in die Tiefe zu schauen.
Und doch sagen Sie, dass Sie als Erstes ans Strafen denken.
Es ist ein gesellschaftliches Bedürfnis, dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird, der einer anderen Person Unheil zufügt. Das macht uns alle zu Strafenden.
Da würde Ihnen jetzt mancher widersprechen.
Die staatliche Strafe ist ein demokratischer Prozess. Das heisst, dass wir uns in Deutschland wie auch der Schweiz als Bürger mehrheitlich dazu entschlossen haben zu strafen. Urteile werden nicht umsonst im Namen des Volkes vollstreckt. Deshalb kann man nicht einfach sagen, dass man nichts damit zu tun hat. Es findet eine ungute Entkoppelung von Strafjustiz und Allgemeinheit statt, die auch von den Behörden verschuldet ist.
Wie meinen Sie das?
Die Mehrheit findet Urteile oft zu lasch. Vertreter der Justiz blocken das meist ab nach dem Motto: Ihr habt keine Ahnung, hier läuft alles nach Recht und Gesetz. Das erweckt den Eindruck, strafen sei fast schon ein medizinischer Akt mit Fachleuten wie in der Chirurgie, die als Einzige ein Herz operieren können. Das stimmt nicht, denn dass überhaupt bestraft wird, ist keine rationale Entscheidung, sondern Ausdruck des Volkswillens. Wir haben das Recht, aber auch die Pflicht, näher hinzuschauen.
In Ihrem Buch vergleichen Sie unsere Art zu strafen mit der albanischen Blutrache und finden grosse Ähnlichkeiten.
Natürlich sind Länder wie Deutschland und die Schweiz deutlich weiterentwickelt, als es in bestimmten Gegenden von Albanien der Fall ist – bei der Blutrache geht es ja darum, einen anderen Menschen zu töten, um die Ehre wiederherzustellen. Doch der Grundgedanke ist derselbe wie der unserer Strafjustiz: Wir fügen einer Person Leid zu, weil sie einer anderen Person Leid zugefügt hat. Es ist eine gesetzliche Form von Rache, auch wenn das oft verleugnet wird.
Inwiefern?
In den letzten Jahren begann man zu betonen, es gehe beim Strafvollzug um Resozialisierung, um die Sicherheit der Allgemeinheit und um Abschreckung. Das sind zukunftsorientierte, scheinbar vernünftige Zwecke, die nichts mit dem Kern der Strafe zu tun haben: Sie soll dem Bestraften wehtun.
Seit drei Jahren verteidigen Sie als Anwalt die Art von Menschen, die als Gefängnisdirektor unter Ihrer Aufsicht standen. Was ist das für ein Gefühl?
Am Anfang war es merkwürdig, in die Gefängnisse reinzugehen. Als Direktor stehen einem dort – bildlich gesprochen – alle Türen offen. Wenn ich als Anwalt Häftlinge treffe, habe ich ähnliche Freiheitsgrade wie meine Klienten.
Der Deutsche Thomas Galli (46) studierte Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie und war über fünfzehn Jahre lang im Strafvollzug tätig – unter anderem als Abteilungsleiter der Justizvollzugsanstalt Straubing (Bayern) und als Direktor der Justizvollzugsanstalt Zeithain (Sachsen). In dieser Zeit wurde er immer mehr zum Kritiker des Strafvollzugs und begann sich für grundlegende Reformen einzusetzen. Gerade erschien sein viertes Buch «Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen». Neben seiner Tätigkeit als Autor und Aktivist vertritt Galli als Rechtsanwalt Menschen, die in Haft sind. Seine Frau arbeitet in derselben Kanzlei in Augsburg wie er.
Der Deutsche Thomas Galli (46) studierte Rechtswissenschaften, Kriminologie und Psychologie und war über fünfzehn Jahre lang im Strafvollzug tätig – unter anderem als Abteilungsleiter der Justizvollzugsanstalt Straubing (Bayern) und als Direktor der Justizvollzugsanstalt Zeithain (Sachsen). In dieser Zeit wurde er immer mehr zum Kritiker des Strafvollzugs und begann sich für grundlegende Reformen einzusetzen. Gerade erschien sein viertes Buch «Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen». Neben seiner Tätigkeit als Autor und Aktivist vertritt Galli als Rechtsanwalt Menschen, die in Haft sind. Seine Frau arbeitet in derselben Kanzlei in Augsburg wie er.