Herr Ruf, was bedeutet Freiheit für Sie?
Marcel Ruf: Mich am Samstag dazu zu entscheiden, im Bett liegen zu bleiben zum Beispiel. Es sind Selbstverständlichkeiten, die man wohl erst vermisst, wenn man sie nicht mehr hat.
Was ist in Ihren Augen für einen Menschen das Schlimmste am Eingesperrtsein?
Der fehlende Kontakt zur Aussenwelt. Wer in Untersuchungshaft kommt – dem wird von einem Moment auf den anderen die Freiheit entzogen. Er sitzt in der Zelle, seine Angehörigen wissen nicht, wo er ist. Das Mobiltelefon – für viele wie ein Körperteil – wird einem abgenommen. Der Zugang zu allen sozialen Netzwerken ist gekappt.
Wie äussert sich der plötzliche Freiheitsentzug bei Gefangenen?
In der U-Haft, wo nicht gearbeitet wird, können Schlaflosigkeit oder andere psychische Krankheiten auftreten. Gefangene aus kriminellen Organisationen – meist militärisch geschulte Leute – versuchen darum Struktur in den Alltag zu bringen, indem sie immer gleich lang schlafen, sich in der Zelle nach einem bestimmten Stundenplan bewegen, Liegestützen machen, dazwischen lesen.
Erhalten Gefangene heutzutage noch Briefe?
Briefe schreiben ist nicht mehr hip. Das machen nur noch die nächsten Angehörigen. Nach der Untersuchungshaft können sie einmal pro Woche zu Besuch kommen oder dreimal pro Woche anrufen. Ausser bei der Arbeit und während den zwei Stunden Freizeit am Abend sind Gefangene alleine. Um zehn nach acht wird der Schlüssel in der Zelle gedreht. Bis um sieben Uhr fünfzehn am nächsten Morgen bleiben die Türen geschlossen – also fast zwölf Stunden. Das ist auch an den Festtagen so, am Geburtstag und am Geburtstag der Kinder.
Sie laufen hier abends raus, 369 Gefangenen müssen bleiben. Wie fühlt sich das Pendeln zwischen einer geschlossenen und einer offenen Gesellschaft an?
Ich bin in einem Behindertenheim aufgewachsen – meine Mutter hatte dort eine Teilleitung. Behinderte, vor allem Querschnittgelähmte, sind oft Gefangene im eigenen Körper, müssen einen Knopf drücken, wenn sie aus dem Bett wollen. Ich war von klein auf gewöhnt, von der Schule nach Hause zu kommen an einen Ort, an dem sich die wenigsten frei bewegen konnten.
Lenzburg hat eine Drohnenabwehr, Wärmebildkameras und ein System, das beim Einschalten eines Handys Alarm schlägt. Der letzte Ausbruch gelang im Jahr 2006. Wie sehr ist Technik dafür verantwortlich, dass die Strafanstalt Lenzburg als eine der sichersten der Welt gilt?
Sie ist genauso wichtig wie Mitarbeiter, die mit ihr umgehen können. Was sich viele nicht bewusst sind: Der Einsatz moderner Sicherheitstechnik kann auch für Gefangene Vorteile mit sich bringen.
Welche?
Dass er bei einem Besuch einen viel grösseren Spielraum hat zum Beispiel. Wir haben einen Besucherpark mit Spielplatz für die Kinder der Gefangenen. Ohne Iris-Scanner gäbe es ihn nicht.
Was verhindert der Scanner?
Dass ein Gefangener mit seinem Bruder den Pullover austauscht und der Falsche das Gefängnis verlässt. In Stockholm und Berlin ist das passiert. Wir können das verhindern, indem wir die biometrischen Daten aller Besucher einlesen. Wer raus will, muss durch den Iris-Scanner.
In Filmen reissen Ausbrecher manchmal einem Gefängnisaufseher einen Augapfel heraus, um den Iris-Scanner zu überlisten.
Im Film «Illuminati» passiert das einem Mitarbeiter des Cern in Genf. Im echten Leben funktioniert das nicht, denn das System erkennt, ob ein Auge lebt. Das sage ich jedem Besucher, der beunruhigt ist.
Müssten Sie es nicht eher den Gefangenen sagen?
Über solche Sachen wissen die meistens Bescheid. Freunde oder Familienmitglieder können so etwas leicht für sie herausfinden.
Wenn jemand in einem Film aus einem Gefängnis ausbricht – können Sie da mitfiebern?
Mich interessiert mehr, wie realistisch so etwas dargestellt ist. Der Krimiautor Jo Nesbø hat Lenzburg in seinem Buch «Der Sohn» als Vorbild für ein norwegisches Gefängnis beschrieben. Dort gelingt ein Ausbruch dank einem Gefangenen, der in der Kommandozentrale putzt. Das ist sehr konstruiert.
Direktor Marcel Ruf (54) machte die Justizvollzugsanstalt Lenzburg AG in seiner 15-jährigen Amtszeit zu einem international geachteten Pionier-Gefängnis. Der gelernte Maschinenbauzeichner investierte als erster Schweizer Gefängnisdirektor in eine Drohnenabwehr und Altersabteilung, er lässt Anstaltswände von Graffiti-Künstlern gestalten und Gefangene alle zwei Jahre ein Theaterstück aufführen, dem bereits die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga beiwohnten. 2018 initiierte er ein Projekt, bei dem Täter von schweren Straftaten in Gesprächsrunden auf Opfer von schweren Straftaten trafen. Ruf wuchs in Murgenthal und Rothrist AG auf, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Direktor Marcel Ruf (54) machte die Justizvollzugsanstalt Lenzburg AG in seiner 15-jährigen Amtszeit zu einem international geachteten Pionier-Gefängnis. Der gelernte Maschinenbauzeichner investierte als erster Schweizer Gefängnisdirektor in eine Drohnenabwehr und Altersabteilung, er lässt Anstaltswände von Graffiti-Künstlern gestalten und Gefangene alle zwei Jahre ein Theaterstück aufführen, dem bereits die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga beiwohnten. 2018 initiierte er ein Projekt, bei dem Täter von schweren Straftaten in Gesprächsrunden auf Opfer von schweren Straftaten trafen. Ruf wuchs in Murgenthal und Rothrist AG auf, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Der Vierfachmörder von Rupperswil sass in Lenzburg in Untersuchungshaft. Was wissen die Gefangenen eigentlich über einen öffentlich bekannten Verbrecher, wenn er ins Gefängnis kommt?
Alles, was sie in den Medien lesen, sehen und hören. Gefangene können sich mit dem Geld, das sie bei der Arbeit verdienen, einen Fernseher mieten. Manche haben Zeitungen abonniert. Nur der Zugang zum Internet ist nicht möglich.
Kindsmörder wie Werner Ferrari, der in Lenzburg sitzt, stehen unten in der Gefängnishierarchie. Genauso Sexualmörder wie der ebenfalls in Lenzburg inhaftierte Erich Hauert. Was passiert, wenn sich so jemand bedroht fühlt?
Wenn er nicht sagen will, wer ihn bedroht, kann er sich in der Freizeit in der Zelle einsperren lassen. Arbeiten gehen muss er trotzdem. Es ist, wie wenn man auf dem Pausenplatz der Ausgestossene ist. Alle anderen gehen spielen, einen selbst fragt niemand. Das Einzige, worauf man hoffen kann, ist einen anderen Ausgestossenen zu finden.
Wenn Sie aus Ihrem Büro laufen, sind Sie mitten unter den Gefangenen. Kommt es da für Sie zu brenzligen Situationen?
Die meisten Gefangenen führen sich mir gegenüber anständig auf. Nur einmal hat mir einer gesagt, dass er mir alle Knochen bricht.
Wie reagierten Sie darauf?
Ich nahm das relativ gelassen. Nachdem er weitere Drohungen geäussert hatte, verlegten wir ihn damals für sechs Monate in den Sicherheitstrakt, dann durfte er wieder zurück.
Was passiert sonst so, wenn sich jemand nicht an die Regeln hält?
Wenn sich zwei beim Fussballspielen in die Haare geraten, kommen sie fünf Tage alleine in die Arrestzelle. Sie ist im Untergeschoss und hat ein kleines Fenster, das zu einem Lichtschacht führt. Der Gefangene darf nur ein Buch mitnehmen und nur eine Stunde pro Tag alleine spazieren. Bei schlimmeren Regelbrüchen kann ein solcher Aufenthalt bis zwanzig Tage dauern.
Was passiert bei kleinen Regelbrüchen?
Wer das Licht in der Zelle brennen lässt, zahlt fünf Franken Umweltbeitrag. Wer für Vögel Brot auf den Fenstersims legt, zahlt zwanzig, denn ein anderer Gefangener muss am nächsten Tag die Sauerei im Garten aufputzen. Ich glaube an die Broken-Windows-Theorie vom ehemaligen Bürgermeister New Yorks, Rudolph Giuliani: Wenn man ein zerbrochenes Fenster nicht ersetzt, hat man bald überall zerbrochene Fenster.
Wie weiss ein Gefangener überhaupt, was er alles nicht darf?
Es steht alles in unserer Hausordnung, die jedem Gefangenen abgegeben wird. Einiges ist zusätzlich vor Ort angeschrieben, oder Mithäftlinge weisen Neulinge auf etwas hin. Tritt jemand negativ auf, lassen ihn die Mithäftlinge auch mal reinlaufen.
Wie denn?
Indem Sie sie ihn zum Beispiel nicht darauf aufmerksam machen, dass jeder nur ein Tuch zum Duschen nehmen darf. Wer zwei nimmt, hat zwei Wochen keine Freizeit.
Ganz schön hart.
Das hat ökologische, aber auch praktische Gründe: Wenn wir plötzlich 300 Tücher waschen müssen anstatt 150, bringt uns das logistisch an Grenzen.
Lenzburg war 2011 die erste Schweizer Strafanstalt, die eine Altersabteilung für über 60-Jährige einrichtete. Wie alt ist Ihr ältester Gefangener heute?
76 Jahre alt. Vor einem halben Jahr wurde ein 89-Jähriger entlassen.
Woran liegt es, dass es immer mehr ältere Häftlinge gibt?
Weil wir alle immer älter werden, steigt auch das Durchschnittsalter im Gefängnis. Hinzu kommt, dass die Strafen heute härter sind als noch vor dreissig Jahren und die Behörden heute viel vorsichtiger, bevor sie jemanden entlassen. Vor allem bei Gefangenen, die für die Sicherheit der Gesellschaft eine grosse Bedrohung darstellen.
Wie viele Verwahrte sitzen in Lenzburg ein?
Zweiundzwanzig.
Verwahrt werden unter anderem Personen, die ihre Strafe abgesessen haben, aber noch immer als gefährlich eingestuft werden. Mal abgesehen von pädosexuellen Tätern: Wie gefährlich kann ein gebrechlicher 80-Jähriger noch sein?
Man stelle sich einen Pyromanen vor – jemand, der gerne Brände legt. Selbst wenn er im Rollstuhl sitzt, kann er problemlos in der Nacht mit einem Feuerzeug das Altersheim anzünden.
Vor kurzem hat sich ein Verwahrter in der Zuger Strafanstalt Bostadel in den Tod gestürzt. Im selben Gefängnis will ein Serienvergewaltiger sein Leben mit Hilfe von Exit beenden. Im Herbst 2019 gibt das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug eine Empfehlung ab, wie man in Zukunft mit solchen Forderungen umgehen soll. Wie stehen Sie dazu?
Diese Fragestellungen sind sehr komplex. Ich kann grundsätzlich nachvollziehen, dass jemand, der weiss, dass er den Rest seines Lebens eingesperrt bleiben wird, am liebsten sterben möchte. Allerdings ist für mich Sterbehilfe in Fällen, in denen jemand körperlich gesund ist, kein Thema. Das müsste sowieso der einweisende Kanton entscheiden, der für den Gefangenen zuständig ist.
Was, wenn ein Gefangener nur noch wenige Tage zu leben hat?
Dann gibt es schon jetzt wie in Spitälern die Möglichkeit der Sterbebegleitung. Das heisst, dass die Sterbespitex einem Häftling, der todkrank ist, ein Medikament wie Morphium verabreicht, damit er so wenig Schmerzen wie möglich hat.
Sprechen wir über etwas Lebensbejahendes. Alle zwei Jahre führen Häftlinge hier ein Theaterstück auf. Warum fördern Sie als einziger Gefängnisdirektor der Schweiz solche Aktionen?
Weil Theaterspielen gut für Geist und Körper ist. Wir sind von Gesetzes wegen verpflichtet, den Gefangenen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anzubieten. Selbst in den USA, im Libanon oder in Rumänien wird Theater im Gefängnis gespielt. Bis in die Siebzigerjahre waren solche Aufführungen in der Schweiz gang und gäbe. Gefangene vom Thorberg in Bern führten in den 1950er-Jahren sogar ein Theaterstück im Stadttheater in Bern auf. So etwas wäre heute unvorstellbar.
Warum?
Das würde eine Vollzugslockerung darstellen. Diese werden seit den Achtziger- und Neunzigerjahren, als mehrere Gefangene im Hafturlaub schwere Delikte begingen, fast nicht mehr bewilligt. Der geschlossene Strafvollzug ist heute in Bezug auf Öffnungen restriktiv. Aber auch in anderen Bereichen gab es Korrekturen: Bis Anfang Achtziger gab es am Samstag noch für jeden Gefangenen ein Glas Wein. Man musste aufhören, weil die Alkoholiker allen anderen die Gläser abkauften und betrunken durch die Gänge torkelten.
Wie viele Hafturlaube werden in Lenzburg bewilligt?
2018 waren es neun. Bis Anfang Neunzigerjahre pro Jahr 500.