Marroni sind im Moment teurer
Wie Marroni vom Armenbrot zum Hipstersnack wurden

Jetzt haben Marroniverkäufer wieder viel zu tun. Wir haben einen besucht: Tarek Houij. Und erklären, warum diese Nusssorte derzeit teurer ist als sonst und wie sie sich vom Armenbrot zum Feierabendsnack der Hipster entwickelt hat.
Publiziert: 31.10.2021 um 14:03 Uhr
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Marroniverkäufer haben derzeit alle Hände voll zu tun: Bei schönem Wetter verkaufen sich die Nüsse jeweils besser. Tarek Houij (55) hat seinen Stand am Zürcher Bahnhof Hardbrücke.
Foto: Lea Ernst
Lea Ernst

Beim Zürcher Bahnhof Hardbrücke steigt Rauch auf. In Anzügen oder Stöckelschuhen hasten Menschen Richtung Perrons. Es ist 17 Uhr, Feierabend. Doch bevor die Pendlerinnen und Pendler im Schlund des Bahnhofs verschwinden, zieht ihnen ein röstiger Duft in die Nase. Denn an der Ecke zur Geroldstrasse verkauft Tarek Houij (55) heisse Marroni.

Seit zwanzig Jahren brät Houij die Nüsse in seinen Kupfertöpfen über glimmender Holzkohle, seit zehn Jahren unter der Hardbrücke. Nachdem die Marronikultur in Vergessenheit geraten war, hat sie in den letzten 20 Jahren ein Comeback gefeiert. Die Nachfrage ist gross, doch das Angebot zum Teil knapp. Deshalb musste Houij den Preis für 100 Gramm dieses Jahr von den üblichen 3.50 auf 4 Franken erhöhen.

Das Wetter ist schuld am höheren Preis

«Die Qualität der diesjährigen Ernte ist bisher zwar sehr gut», sagt Renzo Strazzini (50). Mit der Marroni-Import Gysi & Strazzini AG beliefert er Stände und Restaurants in der ganzen Schweiz mit Marroni und Kastanien aus Italien. «Aber weil der Sommer in gewissen Regionen Italiens extrem trocken war, ist es zu Lieferengpässen seitens der italienischen Exporteure gekommen.»

Edelkastanie, Marroni und Rosskastanie

Edelkastanie: Ihre Bäume wachsen hauptsächlich südlich der Alpen. Die essbare Edel- oder Esskastanie hat eine flache Unterseite, ihre Stacheln sind feiner als die der Rosskastanie.

Marroni: Bei der Marroni handelt es sich um eine Weiterzüchtung der Edelkastanie. Sie ist etwas grösser, herzförmig und lässt sich besser schälen.

Rosskastanie: Die braunen Früchte eignen sich hervorragend zum Basteln lustiger Tiere, doch sind sie wegen des hohen Gehalts an Gelbsäure nicht essbar.

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Edelkastanie: Ihre Bäume wachsen hauptsächlich südlich der Alpen. Die essbare Edel- oder Esskastanie hat eine flache Unterseite, ihre Stacheln sind feiner als die der Rosskastanie.

Marroni: Bei der Marroni handelt es sich um eine Weiterzüchtung der Edelkastanie. Sie ist etwas grösser, herzförmig und lässt sich besser schälen.

Rosskastanie: Die braunen Früchte eignen sich hervorragend zum Basteln lustiger Tiere, doch sind sie wegen des hohen Gehalts an Gelbsäure nicht essbar.

Die meisten Schweizer Stände verkaufen Marroni, keine Edelkastanien. «Aber je nach Qualität und Quantität der Ernte müssen in manchen Jahren Ausfälle mit Edelkastanien überbrückt werden. Wir werden sehen, ob das diese Saison der Fall sein wird.» Die Lieferkette sei komplex. «Von den Bauern in Italien gehen die Nüsse an Verkäufer, bis wir sie als Händler schliesslich an die Stationen in der Schweiz liefern», so Strazzini.

Mitte September würden die Kastanien normalerweise als Erstes geerntet. Doch weil es wegen der Trockenheit zu einem Mangel an Waren kam, konnte man danach die um zwei Wochen verspätete Marroni-Ernte nicht auffangen, erklärt Strazzini. Gleichzeitig sei das Wetter in der Schweiz überdurchschnittlich schön gewesen. «Alle wollten plötzlich Marroni – die Nachfrage war viel grösser als das Angebot. Die Preise schnellten in die Höhe.»

Vom Armenbrot zum Feierabendsnack der Hipster

An der Hardbrücke hat ein junger Mann gerade 200 Gramm Marroni bestellt. «Hmm, so fein, das sind meine Ersten dieses Jahr», sagt er. Zu Saisonbeginn im Oktober laufe Houijs Geschäft immer am besten, weil die Leute dann schon lange keine Marroni mehr hatten. Gegen Saisonende im Februar ebbe die Nachfrage wieder ab.

«Als ich vor zwanzig Jahren angefangen habe, gab es neben meinem Stand weniger als zehn andere in der ganzen Stadt», erzählt Houij. «Aber in den letzten Jahren sind Marroni immer beliebter geworden.» Gemäss der Stadtpolizei Zürich stehen dieses Jahr 20 bewilligte Marronistände in den Zürcher Strassen.

Dies bestätigt auch Erica Bänziger (58), Marroni-Expertin und Autorin des Buches «Kastanien». Sie sagt: «Bis in die Nachkriegszeit war die Kastanie ein wichtiges Grundnahrungsmittel.» Dank der Kohlenhydrate der Kastanie hätten früher viele Schweizerinnen und Schweizer harte Winter überlebt. Nachdem sie von Reis und Kartoffeln abgelöst worden sei, sei die Kastanie jedoch in Vergessenheit geraten.

Erst seit den 90er-Jahren erlebt die Nussfrucht ihr grosses Comeback: zuerst im Tessin und in der Romandie. «Dort wird die Kastanie an zahlreichen Herbstfesten gefeiert und hat ihren Weg zurück in die Küchen und Restaurants gefunden», sagt Bänziger. Und auch in der Deutschschweiz werde die Kastanienkultur immer stärker gepflegt.

Das Sammeln von Kastanien wird als Herbsterlebnis zelebriert. Vor allem in der Innerschweiz gibt es wieder mehr Edelkastanienbäume, gefördert von der Interessengemeinschaft «Pro Kastanie Zentralschweiz». Bänziger weiss: Das Sammeln von Esskastanien ist während der Erntezeit nur auf öffentlichen Kastanienwegen erlaubt, zum Beispiel in Murg SG, in Arosio TI oder bei Fully VS. Danach, ab dem 11. November, darf überall gesammelt werden.

Kontaktlos ist nur die Zahlungsmethode

Mittlerweile ist es halb sechs in Zürich. Houijs Marroni sind gefragt. Nicht nur die. Sein Holzhäuschen ist der inoffizielle Infostand bei der Hardbrücke. Mehrmals täglich fragen ihn Passanten nach dem Weg. Und prompt kommt eine Frau vorbei, fragt: «Entschuldigung, wo ist hier die Bushaltestelle?»

Nachdem er ihr Auskunft gegeben hat, sagt Houij: «Es gefällt mir, dass ich so viel mit Menschen zu tun habe.» Und zeigt auf die Fussgängerpassage vor ihm. «Vor Corona war hier zu dieser Tageszeit alles voller Menschen.» Dass nach wie vor viele im Homeoffice arbeiten, spürt er deutlich. Auch hätten nur noch sehr wenige Passanten Münz dabei.
Er hat sich angepasst: Seit dieser Saison kann man bei ihm auch kontaktlos bezahlen.

Auch weniger Touristen kommen zu ihm. Ausgerechnet. Houij liebt es, den Gästen aus den Hotels der Umgebung zu zeigen, was er an seinem Stand eigentlich genau röstet, die wenigsten kennen Marroni. «Es ist lustig, ihre Gesichter zu beobachten, wenn ich ihnen eine zum Probieren gebe», sagt er und lacht.

Verleidet sind ihm die Marroni auch nach zwanzig Jahren noch nicht. Im Gegenteil, er kommt ins Schwärmen: «Am liebsten esse ich sie roh, dann schmecken sie noch nussiger, fast wie Mandeln.»

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