Auf einen Blick
Herr Imhof, Sie kennen so viele Schweizer Nahrungsmittel und Gerichte, können Sie sich noch entscheiden?
Paul Imhof: Es ist eine Freude, auch wenn ich kein Lieblingsgericht habe. Ich könnte mich nicht für etwas entscheiden. Ich entdecke immer wieder Neues. Allein schon die ganze Käsegeschichte.
Welche Geschichte?
Viele wissen gar nicht, dass die Alpen eine Käsegrenze sind. In der Deutschschweiz und Romandie wäscht man Halbhartkäse mit Salzwasser. Im Tessin nicht, dort putzt man die Laibe mit einem feuchten Lappen. Das ergibt einen anderen Geschmack.
Sie sagten einmal: Man kann ein Land sehr gut durch das Essen begreifen. Was sagt die Kulinarik in der Schweiz über uns aus?
Sie steht für die Vielfältigkeit der Schweiz. Das Klima, die Geschichte, der Einfluss der Nachbarregionen, die Transportwege über die Berge – all das spielt eine Rolle. Im Tessin gibt es eine alpine sowie eine lombardisch bürgerliche Küche. In Basel ist der Einfluss des Elsass wahnsinnig stark. Das zeigt sich in Klassikern von Pasteten bis Speck-Gugelhopf.
Weshalb muss man die Eigenarten der Schweizer Kulinarik festhalten?
Das kulinarische Erbe ist gefährdet. Heute gibt es zwar Youtube-Filmli von Leuten, die es schaffen, Hörnli mit Ghacktem zu kochen. Vertieftes Wissen über die traditionelle Schweizer Küche geht verloren.
Das hat auch mit dem Wandel der Gesellschaft zu tun. Wie haben sich die Ernährungsgewohnheiten verändert?
Die Industrialisierung veränderte die Lebensgewohnheiten, auch in den Küchen. Die Leute hatten keine Zeit mehr zum Kochen. Und sie brauchten Kraft zum Arbeiten. Julius Maggi (1846–1912) kurbelte deshalb mit seinen Erfindungen die Lebensmittelindustrie an. Er entwickelte unter anderem in den 1880er-Jahren Leguminosenmehl, Suppenwürfel und 1886 die legendäre Flüssigwürze.
Wie ging es weiter?
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Wirtschaft bald eine Hochkonjunktur. Das verlieh der Nahrungsmittelindustrie Schub. Alles wurde rationalisierter. Grossverteiler wie Migros und Coop automatisierten die Lebensmittelherstellung und brachten lokale und regionale Spezialitäten in alle Landesteile. Der Effekt war nicht nur positiv, Vermassung liess Identität verflachen. Viele Produkte haben so ihren ursprünglichen Charakter und Geschmack verloren.
Heute ernährt man sich in der Schweiz aus den Küchen aus aller Welt.
Das haben wir der Zuwanderung und dem Tourismus zu verdanken. In der Schweiz wurde noch nie so vielseitig gegessen wie heute.
Paul Imhof (72) war beim «Tages-Anzeiger» Südostasien-Korrespondent und später Kulinarik-Journalist sowie Buchautor. Nun ist seine neuste Ausgabe von «Das kulinarische Erbe der Schweiz» erschienen. Es basiert auf dem gleichnamigen Inventar, das Bund und Kantone finanzierten. Mit über 400 Produkten aus allen Kantonen, die Imhof mit anderen Experten vor allem in den Nullerjahren zusammengetragen hat. Die erste Auflage des Buchs erschien 2016, in der neusten sind 60 neue Produkte wie Sonntagspastetchen, Viande chevaline, Fromages du Jura und Riso nostrano ticinese zu finden.
Paul Imhof, «Das kulinarische Erbe der Schweiz», Echtzeit-Verlag, 776 Seiten
Paul Imhof (72) war beim «Tages-Anzeiger» Südostasien-Korrespondent und später Kulinarik-Journalist sowie Buchautor. Nun ist seine neuste Ausgabe von «Das kulinarische Erbe der Schweiz» erschienen. Es basiert auf dem gleichnamigen Inventar, das Bund und Kantone finanzierten. Mit über 400 Produkten aus allen Kantonen, die Imhof mit anderen Experten vor allem in den Nullerjahren zusammengetragen hat. Die erste Auflage des Buchs erschien 2016, in der neusten sind 60 neue Produkte wie Sonntagspastetchen, Viande chevaline, Fromages du Jura und Riso nostrano ticinese zu finden.
Paul Imhof, «Das kulinarische Erbe der Schweiz», Echtzeit-Verlag, 776 Seiten
Trotzdem bleibt die Schweiz ein Käseland. Pro Jahr isst jede Person im Schnitt 23 Kilo davon. Womit fing das an?
Käse ist konservierte Milch. Im Mittelalter fing es mit den Alpwirtschaften an. Damals war noch kein Fluss begradigt, das waren alles Sumpfgebiete. Man hatte wenig nutzbare Ackerfläche. Also trieb man das Vieh in die Höhe. Jeden Tag fiel Milch an, man musste sie verwerten. Durch den Käse verwandelte man Milch in eine haltbare Handelsware und somit in Geld.
Warum hält sich der Käse so hartnäckig?
Um den Käse herum entstanden halt auch Traditionen. Früher war es in gewissen Regionen üblich, dass Kindern zur Geburt ein Käse geschenkt wurde. Das Kind wurde erwachsen und immer älter – wie der Käse, der im Keller reifte. Wenn das «Kind» gestorben war, wurde der Käse an der Beerdigung gegessen. Ich habe im Val d'Anniviers VS einen Laib «Fromage des morts» aus dem Jahr 1875 gesehen. Ob er noch essbar ist? Vielleicht als Reibkäse. Mäuse hatten ihn jedenfalls angeknabbert.
Eine andere kulinarische Tradition – aus der Romandie – steht unter Druck: Was halten Sie vom Importverbot für Stopfleber, wie es eine Initiative verlangt?
Foie gras ist ein hervorragendes Produkt. Für viele Westschweizer gehört es zu Weihnachten. In der Schweiz ist die Herstellung schon lange verboten. Dass man jetzt auch noch den Import verbieten will, verstehe ich nicht. Mit dem Verbot macht man ein Kulturgut kaputt.
Den Befürwortern geht es ums Tierwohl, liegen sie damit so falsch?
Man kann mit den Gänsen auch anders umgehen. Eine Gans muss sich von Natur aus eine Fettleber anfressen, das ist ihr Wintervorrat. Die Frage ist einfach, wie viel, wie natürlich. Man kann das Stopfen limitieren.
Das Inventar des kulinarischen Erbes wird immer wieder erweitert. Wie haben es Nahrungsmittel wie Militär-Biskuit und Vivi Kola reingeschafft?
Die Produkte müssen heute noch produziert und konsumiert werden, und das seit mindestens vierzig Jahren, also von einer Generation zur nächsten. Das ist eigentlich nicht so lange.
Laut einer aktuellen Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts essen Schweizerinnen und Schweizer am liebsten italienisch. Überrascht Sie das?
Nein. Nehmen wir die Pizzeria San Gennaro, in der wir gerade sind. Der Vater des Besitzers stammte aus Lecce (I). Der erlebte noch, wie Freunde von ihm, alles Gastarbeiter, in den 60er-Jahren über die Feiertage mit Koffern voller Schweizer Sachen in die Heimat fuhren. Mit noch pralleren Koffern, gefüllt mit Salame und weiteren Esswaren, kehrten sie in die Schweiz zurück. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden in Zürich die ersten italienischen Lokale. Jetzt sitzen wir beide hier im Hauptbahnhof Zürich und schauen auf den Pizzaofen, während draussen Alfred Escher auf seinem Sockel posiert. Das zeigt, wie etabliert die italienische Küche inzwischen ist.
Warum setzte sie sich durch – und nicht die französische Küche, an der sich immerhin die Lehre zum Koch orientiert?
Die französische Küche ist eine Saucenküche und viel komplizierter als die italienische. Dort begannen in der Antike schon die Römer, die Gerichte zu vereinfachen. Das ist das Geheimnis der italienischen Küche: die Reduktion aufs Minimum mit maximalem Geschmack. Und es kann wenig schiefgehen. Spaghetti Napoli schmecken perfekt. Da muss man sich Mühe geben, sie zu verkochen.
In einem Ranking der auf Kulinarik spezialisierten Organisation Taste Atlas lag die Schweizer Küche vor wenigen Jahren auf Rang 87 von 100. Hat sie ein Imageproblem?
Nein. Solche Rankings sind völlig schwachsinnig. Es gibt keine «beste Küche der Welt». Das hat mit Geschmack zu tun, mit der Küche, mit der man aufgewachsen ist. Die einen schätzen chinesisch, andere indisch, skandinavisch, italienisch oder französisch. Lokale Spezialitäten hängen von Traditionen, vom Boden und von der kulinarischen Identität ganzer Regionen ab. Dieser Vielschichtigkeit werden solche Rankings nicht gerecht.
Sie waren Südostasien-Korrespondent. Thailand und Singapur sind bekannt für ihre ausgeprägte Esskultur. Was können wir von dort lernen?
Die Vielfalt der Geschmäcke, die Kunst des Würzens, Identität und Verwertbarkeit. Und Nose to tail, die komplette Verwertung eines Tieres. Auch das gehört zum kulturellen Erbe der Schweiz. Im «Dicziunari Rumantsch Grischun» («Wörterbuch für Rätoromanisch», d. Red.) gibt es interessante Würste mit längst vergessenen Zutaten, wie die Ligiongia da carnmorta – die Bauchspeicheldrüsenwurst.
Das kulinarische Erbe der Schweiz ist vielfältig. Geografie, Klima, soziale und wirtschaftliche Umstände sowie Geschichte – all das formte unsere Menükarte. Das zeigen folgende drei Produkte aus dem Buch «Das kulinarische Erbe der Schweiz» des Journalisten Paul Imhof.
Sauerkäse
Lässt man die Milch stehen, machen die Milchsäurebakterien daraus Joghurt. Sauerkäse gibt es, wenn man Säure dazugibt. Also Sirte (Molke, Schotte) von einem vorherigen Käsegang oder auch Essig. Die Technik haben wahrscheinlich die Kelten ein paar Hundert Jahre vor Christus im Alpenraum eingeführt. In der Schweiz ist die Ostschweiz das letzte Refugium des Sauerkäses, insbesondere das sankt-gallische Obertoggenburg und die Gemeinde Amden SG sowie der Bezirk Werdenberg im Rheintal SG. Im Toggenburg ist der Begriff Bloderchäs üblich, im Bezirk Werdenberg hingegen Surchäs. Seit 2010 ist dieser Käse im Register der «geschützten Ursprungsbezeichnung» (AOP) eingetragen.
Saucisson vaudois
Die Charcuterie aus dem Waadtland ist landesweit für ihre gute Qualität bekannt. Im 19. Jahrhundert begann ihr Aufstieg. Als die zunehmende Milchwirtschaft die Schweinemast anschob – die Molke, die beim Käsen anfiel, musste schliesslich gewinnbringend verwertet werden. Beliebt ist die Saucisson vaudois, eine würzige, geräucherte Schweinefleischwurst mit abgebrochener Reifung. Wenig überraschend: Auch Weisswein hats drin. Paul Imhof schreibt: «Die ganze Wucht der Wurst entfaltet sich, wenn sie nach 40 bis 50 Minuten ohne geplatzte Haut aus dem Kochwasser gezogen und behutsam angestochen wird, ohne dass ihr wertvoller Saft in alle Richtungen spritzt.» Guten Appetit!
Panettone
Panettone ist das aufwendigste und berühmteste Hefegebäck in Italien und der italienischsprachigen Schweiz. Luftig ist es wegen der langen Gärzeit – bis zu 36 Stunden! Entstanden ist Panettone in Mailand, bezeugt seit 1490. Wie es zum Weihnachtsgebäck wurde, ist unklar. Einige unglaubwürdige Legenden ranken sich darum. Fakt ist, dass es dazu einen christlichen Brauch gibt. In der Lombardei (I) und im Tessin bewahrt man laut Paul Imhof ein Stück Panettone bis zum 3. Februar auf, dem Tag des San Biagio – des Märtyrers Sankt Blasius. Und lässt es in der Kirche segnen. So soll es gegen Schnupfen und Halsweh helfen.
Das kulinarische Erbe der Schweiz ist vielfältig. Geografie, Klima, soziale und wirtschaftliche Umstände sowie Geschichte – all das formte unsere Menükarte. Das zeigen folgende drei Produkte aus dem Buch «Das kulinarische Erbe der Schweiz» des Journalisten Paul Imhof.
Sauerkäse
Lässt man die Milch stehen, machen die Milchsäurebakterien daraus Joghurt. Sauerkäse gibt es, wenn man Säure dazugibt. Also Sirte (Molke, Schotte) von einem vorherigen Käsegang oder auch Essig. Die Technik haben wahrscheinlich die Kelten ein paar Hundert Jahre vor Christus im Alpenraum eingeführt. In der Schweiz ist die Ostschweiz das letzte Refugium des Sauerkäses, insbesondere das sankt-gallische Obertoggenburg und die Gemeinde Amden SG sowie der Bezirk Werdenberg im Rheintal SG. Im Toggenburg ist der Begriff Bloderchäs üblich, im Bezirk Werdenberg hingegen Surchäs. Seit 2010 ist dieser Käse im Register der «geschützten Ursprungsbezeichnung» (AOP) eingetragen.
Saucisson vaudois
Die Charcuterie aus dem Waadtland ist landesweit für ihre gute Qualität bekannt. Im 19. Jahrhundert begann ihr Aufstieg. Als die zunehmende Milchwirtschaft die Schweinemast anschob – die Molke, die beim Käsen anfiel, musste schliesslich gewinnbringend verwertet werden. Beliebt ist die Saucisson vaudois, eine würzige, geräucherte Schweinefleischwurst mit abgebrochener Reifung. Wenig überraschend: Auch Weisswein hats drin. Paul Imhof schreibt: «Die ganze Wucht der Wurst entfaltet sich, wenn sie nach 40 bis 50 Minuten ohne geplatzte Haut aus dem Kochwasser gezogen und behutsam angestochen wird, ohne dass ihr wertvoller Saft in alle Richtungen spritzt.» Guten Appetit!
Panettone
Panettone ist das aufwendigste und berühmteste Hefegebäck in Italien und der italienischsprachigen Schweiz. Luftig ist es wegen der langen Gärzeit – bis zu 36 Stunden! Entstanden ist Panettone in Mailand, bezeugt seit 1490. Wie es zum Weihnachtsgebäck wurde, ist unklar. Einige unglaubwürdige Legenden ranken sich darum. Fakt ist, dass es dazu einen christlichen Brauch gibt. In der Lombardei (I) und im Tessin bewahrt man laut Paul Imhof ein Stück Panettone bis zum 3. Februar auf, dem Tag des San Biagio – des Märtyrers Sankt Blasius. Und lässt es in der Kirche segnen. So soll es gegen Schnupfen und Halsweh helfen.