Ein Plädoyer fürs Lästern
Klatschmäuler, ihr seid super!

Lästern hat einen schlechten Ruf. Zu Unrecht! Über andere zu sprechen, schafft sozialen Kitt. Ein Plädoyer für mehr Klatsch und Tratsch im Alltag.
Publiziert: 12.05.2023 um 00:28 Uhr
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Lästern hat wichtige Funktionen für uns Menschen.
Foto: Zvg
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Wir tun es alle. Auch wenn wir uns selber weismachen, wir würden es nicht tun: lästern. Oft merken wir’s nicht einmal. So wie die beiden Professorinnen der Universität St. Gallen vor einem Jahr. Nach einer Online-Vorlesung zogen sie so richtig schön über ihre Studenten vom Leder, darüber, dass sich die Männer (einmal auch «Herzchen» genannt) mehr für den Stoff interessierten. Und die Frauen? «Sind komplett verloren», setzte eine drauf. Doof nur, dass sie vergassen, vorher die Videoaufnahme zu stoppen und so Studierende alles mitbekamen – und die Geschichte beim «St. Galler Tagblatt» landete. Was folgte: Empörung – und ganz viel Tratsch darüber.

Lästern ist eine Realität – und wie wir hier gleich ausführen werden: gar nicht schlecht. Darum geht es: Wir wollen mit dem miesen Image aufräumen. Und treffen dabei auf einen Mann, dem es auch so geht, wie er am Telefon sagt: Christian Fichter, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Kalaidos Fachhochschule in Zürich. Er sagt: «Tratsch wird zu Unrecht verteufelt. Er ist essenziell für den Menschen.» Weil: Ein angeborenes Bedürfnis.

Ein Forschungsprojekt des Anthropologen Robert Dunbar kam zum gleichen Schluss: Zwei Drittel all unserer Unterhaltungen sind Gerede über zwischenmenschliche Dinge. So hat er es im Buch «Klatsch und Tratsch» Ende der Neunziger niedergeschrieben. Er und seine Kollegen hatten in ganz England bei Tausenden von Gesprächen in Zügen, Restaurants, Geschäften mitgehört und festgestellt: Sehr oft und sehr gerne plaudern die Menschen über Personen, die nicht anwesend sind. Sein Fazit im Buch: Die Sprache sei überhaupt erst entstanden, «damit wir tratschen können».

Beim Lästern geht es um Moral!

An die Adresse von all jenen, die sich heute Morgen bei Dritten über den viel zu bierseligen Leiter des Schützenvereins ausgelassen haben oder die faule Arbeitskollegin – ihr seid keine Ungeheuer. Im Gegenteil: Ihr seid sozial! Wirtschaftspsychologe Fichter sagt: «Lästern wirkt wie sozialer Kitt.» Beim Tratschen tausche der Mensch wichtige informelle Informationen aus. Ein bekannter Schauplatz: die Arbeitsumgebung. Ohne Informelles käme man in diesem hierarchischen Umfeld kaum zurecht. Wie man mit dem neuen Chef umgehen muss, ob der eigene Lohn fair ist, ob die Arbeitskollegin wirklich faul ist – mit diesem Gesprächsstoff prüft man, ob man selber richtig liegt und wo andere stehen. Und man verhandelt moralische Grundsätze, so Fichter. Für ihn ist klar: «Jeder sollte sich Tratschkompetenz aneignen.»

Zugegeben: Es gibt Grenzen. Ist ein Problem gravierend, sollte man es ansprechen, sonst ändert sich nichts. Und destruktiv wird es, wenn es in Mobbing ausartet. Das kann eine Gemeinschaft zersetzen. Kommt aber selten vor. Eine Studie der Universität Amsterdam konnte 2012 zeigen: Das Motiv, negativen Einfluss zu nehmen, ist der letzte Grund, warum Menschen tratschen. Häufigerer Antrieb: Spass!

An all jene, die sich jetzt noch zieren: Gebt euch einen Ruck. Tratscht! Und denkt daran, wenn ihr einem Klatschmaul begegnet: Die Person ist einfach nur hyper-sozial.


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