Hier regiert der Dialekt
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Keine Sorge!Hier regiert der Dialekt

Keine Sorge um unser Schwiizerdütsch
Hier regiert der Dialekt

Wir lieben sie, wir pflegen sie – und wir haben immer wieder Angst um sie: unsere Mundart. Dabei sind regionale Dialekte so stabil wie nirgends sonst im deutschsprachigen Raum.
Publiziert: 29.02.2020 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 02.03.2020 um 08:48 Uhr
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Wir lieben unsere Mundart. Im Zweiten Weltkrieg war sie sogar Mittel der geistigen Landesverteidigung. Mit Filmen wie «Landammann Stauffacher» (1941), in dem Anne-Marie Blanc und Heinrich Gretler mitspielten.
Foto: Keystone
Rebecca Wyss

Wenn meine Grossmutter erzählt, was sie letztes Jahr gemacht hat, sagt sie «färn», wenn es um gestern Abend geht, «nächti». Und als Skirennfahrer Mauro Caviezel mal fast gestürzt wäre, sich aber komischerweise doch noch halten konnte, war er für sie «e glungige Cheib».

Einmal sah sie, 87, so müde aus, dass ich ihr sagte: «Sitz doch ab.» Sie schaute mich verwundert an und verstand nicht, was ich meinte. Oder tat vielleicht auch nur so. Grosi sagt «abhocke». Grosi stammt aus dem Kanton Solothurn, so wie ich auch. Nur dass ich seit Jahren in Zürich lebe und offenbar immer mehr vom «Grüezi» übernehme und vom «Grüessech» verliere.

In der kleinräumigen Schweiz ist es normal, dass man sich zwischendurch nicht versteht. Wir reden alle so, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Spricht aber einer in gestochenem Hochdeutsch von seiner «Befindlichkeit», reagieren wir empfindlich. Noch schlimmer, wenns ein Schweizer in geschliffenem Bühnendeutsch tut. Das riecht nach Verrat.

Wir bleiben bei den Finken

Jeder von uns liebt seine Mundart, wir verteidigen sie. Und das erfolgreich, wie man seit kurzem weiss. In einer gross angelegten Studie haben Forscher der Universitäten Bern, Zürich und Salzburg (A) die Dialekt-Vielfalt im deutschen Sprachraum untersucht. Die Daten von fast zwei Millionen Menschen zeigen, dass die Deutschen ihre Dialekte verlieren – und wir Schweizerinnen und Schweizer nicht.

Früher sagte ein Westfale «Pöhlen» zum «Tschutten». Heute spricht auch er vom Fussballspielen. Wir hingegen sind stur bei unseren «Finken» oder dem «Znüni» geblieben. Adrian Leemann, Linguistikprofessor an der Universität Bern und an der Untersuchung beteiligt, sagt: «Die ausgeprägte Stabilität der Mundart ist auffallend im deutschsprachigen Raum.»

Dafür gibt es gute Gründe.: «Die Deutschen wertschätzen ihre Dialekte viel weniger als die Schweizer», sagt Leemann. Wer etwas auf sich hält, spricht Standard-Hochdeutsch. Zumindest in der Öffentlichkeit. Wenn einem Bundestagspräsidenten wie Wolfgang Schäuble ein «isch» statt «ist» herausrutscht, hallt das in den Medien nach, im Dresdner «Tatort» sächselt höchstens ein Nebendarsteller, und wer im Bewerbungsgespräch nicht auf Bundesdeutsch antwortet, hat verloren.

Wir hingegen sind Stolz auf unsere Mundart. Wir machen keinen Unterschied, ob wir im Büro mit dem Chef ein Projekt besprechen oder zu Hause sich die «Goofen balgen» – wir tun das im jeweiligen Dialekt. Egal, ob Bundesräte oder Bäcker – im Alltag reden wir alle gleich. Schweizer Demokratie halt.

Im 19. Jahrhundert kamen Mundarten unter Druck

Es gab aber auch andere Zeiten. Im 19. Jahrhundert schien das Deutsche unsere Mundart langsam zu verdrängen. In Zürich und Basel gab es so viele Reichsdeutsche wie nirgends sonst in Europa. Gottfried Keller staunte, als er aus Berlin zurückkam. Und als er fast mehr Hoch- als Schweizerdeutsch hörte, schrieb er in einem Brief, dass das früher gar nicht so gewesen sei.

Mehr und mehr drang dies auch in Bereiche vor, in denen es sonst nur Dialekt gab: Vor allem in gehobenen Familien konversierten die Eltern mit ihren Kindern auf Deutsch.

Das änderte sich mit den beiden Weltkriegen. Weil Deutschland den ersten verlor, wurde seine Sprache unpopulär. Dann wütete das Nazi-Regime in Europa, und die Schweiz besann sich auf ihre Mundart als geistige Landesverteidigung. Plötzlich wehte der «Landi-Geist», alles Ländliche und Urchige wurde gefeiert, auch mit Dialektfilmen wie «Landammann Stauffacher» (1941).

Später wurden die Dialekte dank der 68er-Bewegung richtig «groovy». Toni Vescoli trat mit Gitarre und Zürischnurre an Folk-Festivals auf. BLICK und SonntagsBlick brachten mit Mundartwörtern Farbe in die papierig klingende Medienlandschaft. Schule, Kirche, Politik, Medien – überall setzte sich jetzt Schwiizerdütsch durch.

In jüngerer Zeit sind die Mundarten wieder unter Druck geraten. Wegen der Pisa-Studie von 2000. Bei ihr landete unsere Jugend im Leseverstehen auf dem undankbaren 18. Platz von 30. Und versetzte das ganze Land in Aufruhr. Die «Neue Luzerner Zeitung» warnte: «Die Schweiz rutscht ab!», die «Aargauer Zeitung» forderte: «Wir müssen besser lesen lernen.» Und die Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) startete sofort ein «Pisa-Aktionsprogramm», in dem sie diktierte, «die Standardsprache auf sämtlichen Schulstufen und in allen Fächern konsequent» anzuwenden. In den Kantonen Zürich und Thurgau durften die Lehrerinnen und Lehrer nur noch auf Hochdeutsch unterrichten.

Das alles weckte Ängste. SVP und SD lancierten in den Kantonen im Akkord Mundartinitiativen – und kamen damit durch: In Zürich, Zug und im Aargau müssen die Chinsgi-Lehrerinnen und -Lehrer in ihren Dialekten unterrichten.

Heute weiss man, dass weder Hochdeutsch noch unsere Dialekte im Chinsgi schädlich sind. Die Unterrichtssprache hat keinen Einfluss auf die Schreibkompetenz der Kinder. Das hat gerade die aktuelle «Sprikids»-Studie von pädagogischen Hochschulen der Bodenseeregion gezeigt. An dieser haben auch Chinsgi aus Zürich, St. Gallen, Graubünden und dem Aargau teilgenommen.

Trotzdem dominiert Hochdeutsch in den meisten Klassenzimmern. Der Sprachforscher Adrian Leemann kritisiert das: «Es wundert mich, dass wir einen solchen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Hochdeutschen haben und nicht mehr Mundart im Unterricht zulassen.» Er doziert an der Universität Bern auch schon mal in seinem Dialekt, der jenem aus dem Luzerner Hinterland ähnelt.

Trotz stabiler Mundart: Dialekte verändern sich

Allen Massnahmen und Gegenmassnahmen zum Trotz: Unsere Dialekte verändern sich. Adrian Leemann beobachtet, dass sich «die grossen Stadtdialekte immer stärker ausbreiten». Längst ist das zürcherische «Bütschgi» bis nach Schwyz, Uri und in den Aargau gependelt. Zuungunsten von «Bäck», «Grääni» und «Güürbsi». Und die Stadtberner «Glungge» tröpfelt bis ins Berner Oberland, wo die «Glunte» fast versiegt ist. Bald lässt sich auch einer aus dem Stadtbasler Gundeli nicht mehr von einem ländlichen Liestaler unterscheiden, weil beide das städtische Zäpfli-R benutzen.

Und es schleichen sich hochdeutsche Wörter ein: «Schmetterling» hat «Pfifalter» oder «Müllervogel» verscheucht, genauso wie das «gern» das «bitte, gern geschehen». Auch einen hochdeutschen Genitiv hört man öfter: «I bi mer desse bewusst.» Oder ein Futur:
«I wirde das morn mache» anstatt «I mache das morn».

Neue Dialekt-Studie: «Sprachatlas»

Adrian Leemann und sein Linguistik-Team der Universität Bern arbeiten derzeit an der grossen Studie «Sprachatlas», an der 1000 Schweizer teilnehmen sollen. Die Forscher untersuchen, inwiefern sich in den vergangenen 70 Jahren die Dialekte verändert haben. Und wie wir in Zukunft reden werden: Werden Grossstadtdialekte oder das Hochdeutsch regionale Dialekte verdrängt haben? Widerstehen manche Regionen dieser Tendenz? Von anderen Sprachstudien weiss man, dass Frauen ein wichtiger Faktor sind: Sie wollen nicht anecken und passen ihre Sprache jener an, die mehr Reichweite hat – so die Theorie. Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Wenn Sie an der Studie mitmachen wollen: www.dialektatlas.ch

Adrian Leemann und sein Linguistik-Team der Universität Bern arbeiten derzeit an der grossen Studie «Sprachatlas», an der 1000 Schweizer teilnehmen sollen. Die Forscher untersuchen, inwiefern sich in den vergangenen 70 Jahren die Dialekte verändert haben. Und wie wir in Zukunft reden werden: Werden Grossstadtdialekte oder das Hochdeutsch regionale Dialekte verdrängt haben? Widerstehen manche Regionen dieser Tendenz? Von anderen Sprachstudien weiss man, dass Frauen ein wichtiger Faktor sind: Sie wollen nicht anecken und passen ihre Sprache jener an, die mehr Reichweite hat – so die Theorie. Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. Wenn Sie an der Studie mitmachen wollen: www.dialektatlas.ch

Alles nur, weil man hier wohnt und dort arbeitet. Das macht unsere Dialekte aber auch zu einem mobilen Zuhause. Sie wärmen uns in der Fremde – im In- und Ausland. Kürzlich traf ich in Zürich jemanden, der «wäuz» (solothurnisch für «sehr») sagte und sofort anfing, Sprüche zu klopfen. «Wir gehören halt zum Pöbel», witzelte er. Er wusste, dass er sich das leisten konnte, weil wir aus der Region Solothurn nicht so schnell pikiert sind.

Das ist bei allen in etwa gleich: Wenn jemand einen ähnlichen Hintergrund hat, müssen wir nicht zuerst ausloten, wie wir sozial zueinander stehen. Wir geben dem anderen einen Vertrauensvorschuss.

Das gilt nicht nur für die eigene Sprache. Die halbe Schweiz ist in die Berner und Bündner Dialekte verliebt. Während die meisten mit der Thurgauer oder St. Galler Färbung fremdeln. Nicht weil der eine wohliger klingt als der andere: Wir assoziieren Bern und Graubünden schlicht mit Ferien und Entspannung. Objektiv schön ist nämlich keiner. Adrian Leemann hat das in einer Studie herausgefunden: Für Engländer und Franzosen tönen weder Berner noch Thurgauer sympathischer.

Damit wir nicht sprachlos sind

Dass unsere Dialekte nicht mehr den gleichen Klang wie zu Gotthelfs Zeiten haben, ist nicht so tragisch. «Die Alltagssprache hat nur eine Funktion: dass wir uns über die Welt von heute unterhalten können. Sie hat nicht die Funktion, Altes zu erhalten», brachte es der Dialektforscher Christian Schmid einmal im SonntagsBlick Magazin auf den Punkt.

Die Technik schreitet voran, die Sprache zieht mit. Wenn nicht, wären wir irgendwann sprachlos. Und so traurig sind wir ja nicht darüber, dass das «Smartphone» das «nationale Autotelefon», Natel, abgelöst hat. Oder dass wir nicht mehr nach Hause «telifonieren» müssen, sondern spontan «whatsappen» können. Mehr als die Hälfte aller Handy-Nachrichten in der Schweiz sind auf Schweizerdeutsch geschrieben. Was gibt es Besseres, um die Sprache, die sonst vor allem mündlich stattfindet, zu erhalten?

Da kommt es ihr auch entgegen, dass sie nicht in ein standardisiertes Korsett gezwängt ist wie das Hochdeutsche. In den Handy-Nachrichten können wir der Mundart unseren eigenen Stempel aufdrücken. «Nix» mag ich persönlich lieber als das langweilige «nichts». Und dank Whatsapp verliere ich den Solothurner Dialekt ganz bestimmt nie ganz. Grosi sorgt dafür. Als ich ihr einmal ein Foto von meinem Partner whatsappte, kam zurück: «Das isch ganz e flotte Maa.»

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