«Aber was ist mit den Männern?» – wann immer im Blick-TV-Format «sichtbar» Frauen über sexuelle Belästigung berichten, melden sich Leser, die darauf aufmerksam machen, dass auch sie von Übergriffen betroffen sind.
Eins vorweg: Laut Statistiken werden Frauen weitaus häufiger Opfer von sexueller Gewalt als Männer. Doch auch hier dürfte es eine grosse Dunkelziffer geben – beiden Geschlechtern fällt es schwer, übergriffiges Verhalten offen anzusprechen. Nachdem bereits verschiedenste Frauen von ihren Erfahrungen berichtet haben, möchten wir in der neuen Folge «sichtbar» nun auch den Männern eine Stimme geben.
«Männer müssen stark sein»
«Im Restaurant, in dem ich gearbeitet habe, gab es oft Bachelorette-Partys», berichtet etwa ein Betroffener aus der Community. «Da bekam ich immer wieder einen Klaps auf den Arsch.» Auch Sprüche wie «Du hast bestimmt einen Riesenschwanz» musste er sich anhören. «Ich wusste gar nicht, wie reagieren», so der junge Mann. «Ich habe einfach gelacht.»
Hier liegt die Krux: Geht es nach dem vorherrschenden Bild von Maskulinität, dürfen sich Männer gegen sexuelle Belästigung nicht wehren – schliesslich gefällt es ihnen insgeheim, so das gängige Vorurteil. Wehren sie sich trotzdem, werden sie häufig als schwach wahrgenommen.
«Männer müssen stark sein», sagt Sexualtherapeut Roger Spiess. «Deshalb ist das für sie extrem schwierig.» Besonders wenn der Missbrauch im näheren Umfeld, etwa innerhalb der Familie, passiert, hätten viele Mühe damit, darüber zu reden. «Ich wünschte mir, dass Männer ihre Gefühle besser wahrnehmen und ausdrücken – und sogar eine Stärke darin finden», sagt Spiess.
«Sie haben mich belächelt»
Einem der Betroffenen, der in der aktuellen Folge «sichtbar» offen darüber redet, ist dies gelungen: «Wir hatten in der Firma zwei Frauen, die keine Gelegenheit ausliessen, mir näherzukommen», erzählt er. Er sprach das unangemessene Verhalten an, wurde aber nicht ernst genommen: «Sie haben mich belächelt.»
Interessanterweise würden vor allem Frauen – die eigentlich besser auf das Thema sensibilisiert sind – derartige Probleme häufig kleinreden. «Wenn ich ihnen von der Belästigung erzähle, verdrehen sie die Augen», sagt ein Betroffener. «Oder sie glauben mir gar nicht erst.»
Wegen falscher Anschuldigung fast vor Gericht
Spricht man mit Männern über sexuelle Belästigung, geht es aber nicht nur um Übergriffe, die sie am eigenen Leib erleben, sondern auch um falsche Anschuldigungen. Ein Betroffener namens Fabian geriet wegen der kleinen Schwester seiner ersten Freundin in Schwierigkeiten: «Sie rief mich ins Zimmer, weil ich ihr helfen sollte, etwas aus einem Regal zu holen», erzählt er.
«Plötzlich rannte sie tränenüberströmt raus und behauptete, ich hätte sie angefasst.» Erst als der Fall beinahe vor Gericht landete, habe das vermeintliche Opfer zugegeben, dass der Vorfall gar nie passiert sei. Wie sich herausstellte, war sie eifersüchtig auf ihre grössere Schwester.
«Bei manchen Männern ist das praktisch unvorstellbar»
Auch solche Fälle kennt Roger Spiess: «Manchmal kann man herausfiltern, dass wirklich etwas Übergriffiges passiert ist. Oder man stellt eben fest, dass das tatsächlich einfach nicht sein kann.» Für eine erste Einschätzung müsse sich der Sexualtherapeut aber vor allem auf sein Gefühl verlassen. «Das hängt von der individuellen Persönlichkeit ab. Manche sind sehr vorsichtig – bei ihnen ist das praktisch unvorstellbar.»
Trotzdem fehle vielen Männern aber noch immer ein grundsätzliches Verständnis für Grenzen: «Es gibt solche, die finden, wenn eine Frau mit ihnen nach Hause geht und dann keinen Sex möchte, stimme etwas nicht mit ihr», sagt Spiess. Mit solchen Männern müsse er intensiv arbeiten: «Diese Haltung geht natürlich nicht – ausserdem ist sie absolut unmännlich.»