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Interview mit Philipp Keel:Philipp Keel (52) erinnert sich an Friedrich Dürrenmatt

Diogenes-Verleger Philipp Keel zum 100. Geburtstag von Dürrenmatt
«Während er sprach, brummte er wie ein Bär»

Diogenes-Verleger Philipp Keel (52) über Friedrich Dürrenmatts Telefonanruf von 1979, die grosse Brille des Dichters und die Chance, die dessen 100. Geburtstag bietet.
Publiziert: 03.01.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.01.2021 um 15:30 Uhr
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«Mit dieser grossen Brille wirkte er komisch auf mich.» Philipp Keel und Friedrich Dürrenmatt Anfang der 80er-Jahre.
Foto: Anna Keel © Archiv Diogenes Verlag
Daniel Arnet

Herr Keel, erinnern Sie sich noch an den Telefonanruf im Januar 1979? Es war ein Sonntag, und Sie waren zehn Jahre alt.
Philipp Keel: Ja, das war für meinen Vater ein ganz grosser Tag. Ich habe ihn ein paar Mal in seinem Leben glücklich gesehen, doch damals, als der Anruf von Friedrich Dürrenmatt kam, war er selig.

Der berühmte Schweizer Schriftsteller fragte Ihren Vater, den Diogenes-Verlag-Gründer Daniel Keel: «Wotsch du mi?»
Das war ein gewaltiger Moment. Der Geist von Dürrenmatt lag meinem Vater besonders am Herzen. Und nun wollte dieser einmalige Autor zu seinem Verlag wechseln.

War Ihnen Dürrenmatt zu diesem Zeitpunkt schon ein Begriff?
Ja, durch meine Eltern, aber das Werk von Dürrenmatt war für mich damals noch eine Nummer zu gross.

Was lasen Sie als Erstes von Dürrenmatt?
Da müsste man schauen, was der Kanton Zürich auf dem Lehrplan hatte.

Wahrscheinlich «Der Besuch der alten Dame» …
… oder «Die Physiker» oder «Grieche sucht Griechin» oder «Der Richter und sein Henker»: Was auch immer es war, ich las Dürrenmatt anders, nachdem er zu Diogenes kam.

Wie reagierten Ihre Schulkollegen darauf, dass Dürrenmatt bei Ihnen zu Hause ein- und ausging?
Voller Verwunderung, manche auch ein bisschen neidisch.

Und Ihr persönlicher Eindruck von Dürrenmatt?
Ich fand ihn spannend – sein Wesen, seine Stimme, sein Haar. Mit dieser grossen Brille wirkte er komisch auf mich, anders als zum Beispiel Federico Fellini, der elegante Italiener. Dürrenmatt war ein kurliger, aber auch ein mächtiger Mann.

Schüchterte er Sie ein?
Nein, denn er war herzlich und gutmütig. Er war ein Weltbürger, aber in seiner ganzen Erscheinung bescheiden. Und er war vertrauenswürdig. Das kann man als junger Mensch nicht so gut deuten, aber man spürt es.

Durften Sie und Ihr älterer Bruder Jakob am Esstisch sitzen, wenn Dürrenmatt zu Ihnen nach Hause kam?
Das haben meine Eltern immer spontan entschieden, wie alles. Manchmal waren wir dabei, manchmal nicht. Wenn wir einen komplizierten Tag hatten, verzichteten sie eher darauf, uns an den Tisch zu rufen.

Aber Sie bemühten sich, dabei sein zu können.
Sicher, denn ich hatte einfach Lust, Dürrenmatt zuzuhören. Wenn ein älterer Mensch einen jüngeren dazu bringt, bei einem Gespräch unter Erwachsenen still zu sitzen und dabei neugierig zu sein, ist das doch wunderbar.

Nicht nur das Was war wohl besonders an Dürrenmatts Sprache, sondern auch das Wie – die Art, wie er es sagte.
Während er sprach, brummte er wie ein Bär. Und er lachte, während er etwas erzählte. Das Schönste ist, wenn ein Mensch über sich selber lachen kann, und Dürrenmatt konnte das. Und dann das Berndeutsch, das alles noch ein wenig verrückter machte.

Was lernten Sie von Dürrenmatt?
Bei uns kamen oft Menschen zu Besuch, die erzählen konnten. Vielleicht habe ich das ein wenig von ihm mitbekommen. Der Esstisch meiner Eltern war überhaupt meine Schule.

Mehr als die Schule selber?
Ja, die Schule war läppisch im Vergleich zu dem, was ich zu Hause lernte. Die Schule war auch kein Vergleich zu den zwanzig Jahren, die ich in den USA lebte. Die Zeit in Amerika war meine Universität.

Nach einem Klavierstudium am Berklee College of Music in Boston, studierten Sie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München Regie und übersiedelten dann nach Los Angeles. Dort etablierten Sie sich als Künstler. Hatten Sie ein Auge für den Künstler Dürrenmatt?
Sein malerisches und bildnerisches Werk sagte mir damals, das muss ich zugeben, nicht so viel, was sicherlich auch an meinem Alter lag. Natürlich faszinierten mich später immer mehr auch Dürrenmatts Gemälde und Zeichnungen. Der Schriftsteller Dürrenmatt interessierte mich hingegen immer sehr.

Weshalb?
Auch deshalb, weil ich das Philosophische in seinen Texten nicht immer verstand. Den «Besuch der alten Dame» habe ich ehrlicherweise erst mit 25 richtig begriffen, aber es gibt Gott sei Dank begnadetere Schüler als mich.

Gerade weil man Dürrenmatt in Schulen liest, ist er wohl noch heute eine Stütze des Diogenes-Verlags.
Es ist durchaus erstaunlich, dass Dürrenmatt, der vor über 30 Jahren gestorben ist, auf der Liste derer, die dem Verlag besonders viel Glück bescheren, immer noch weit oben steht.

Ist denn nichts Besseres nachgekommen?
Also bitte. Wir haben unter den fast hundert neuen Autoren, die, seit ich vor neun Jahren Verleger wurde, zu Diogenes gekommen sind, durchaus ein paar erfolgreiche. Aber es ist zweifellos ein Geschenk, dass so etwas Wertvolles wie das Werk von Dürrenmatt immer noch eine so starke Präsenz hat und sich stets neue Leser dafür begeistern.

Womit hat diese Präsenz zu tun?
Jede Generation kann Autoren immer wieder neu entdecken. Der hundertste Geburtstag Dürrenmatts, der am 5. Januar ansteht, ist eine gute Gelegenheit, um sein Werk noch einmal von vorne bis hinten zu lesen. Das ist das Interessante an einem Werk, egal ob Buch, Bild oder Film: Man schaut es immer wieder anders an, weil man sich selbst entwickelt.

Wo veränderte sich zuletzt Ihr Blick auf Dürrenmatt?
Ich las tatsächlich noch einmal den «Besuch der alten Dame» und überlegte, wer diesen Stoff heute inszenieren könnte.

Und?
Im National Theatre in London kam es genau vor dem Lockdown im Frühjahr 2020 zur Aufführung von «The Visit» in der Adaption von Tony Kushner, dem begnadeten Broadway-Regisseur. Das Stück erlebte eine weitere Renaissance, alle Aufführungen waren in Kürze ausverkauft.

Wenn Sie als Regisseur den «Besuch der alten Dame» neu verfilmen würden, wer bekäme die Titelrolle?
Meryl Streep. Es muss eine Person sein, die diese Nonchalance, aber auch eine natürliche Autorität hat. Es braucht jemanden, der diese Power und diesen Witz hat. Sie zusammen mit den Coen Brothers würden aus dem Stoff etwas Unglaubliches machen.

Sie gründeten 2016 die Tochterfirma Diogenes Entertainment, um Stoffe von Diogenes als Filmproduzent mitzuentwickeln. Sehen Sie darin ein Zukunftsmodell?
Durchaus. Ich verhandelte und begleitete aber schon viel früher Verfilmungen für Diogenes, zum Beispiel «Das Versprechen» (2001) von Dürrenmatt, «Das Parfum» (2006) von Patrick Süskind und «Der Vorleser» (2008) von Bernhard Schlink.

Der klassische Diogenes-Buchumschlag mit weissem Rand, Bild und Titel geht auch auf Sie zurück.
Das stimmt. Doch mein Vater sagte damals, als ich ihm während eines Spaziergangs von dieser Idee erzählte: «Mach du deinen Mist, und ich mache meinen.» Er hielt also nicht gerade viel von meinem Vorschlag.

Ihre Eltern wünschten sich denn auch nicht unbedingt Sie als Nachfolger im Verlag.
Vielleicht wünschten sie es sich auch zu sehr.

Hat Sie Ihr Vater denn ins Verlagswesen eingeführt?
Nein, aber ich bin damit aufgewachsen. Mein Bruder und ich waren beide mit der Sache vertraut – ob wir es wollten oder nicht. Wenn Sie das Kind eines Sängers sind, dann lernen Sie auch, wie man eine Platte produziert. Man lernt jedenfalls nicht nichts.

Ihr Vater holte neben Friedrich Dürrenmatt viele andere Autoren zu Diogenes und machte Entdeckungen wie Patrick Süskind. Fühlen Sie sich manchmal unter Druck?
Jetzt nicht mehr. Doch als ich den Verlag übernahm, war meine grösste Sorge, ob auch ich Autoren finde, die zu Diogenes passen. Und letztlich das Entscheidende im Leben, habe ich die Kontinuität, um das durchzuziehen? Ich denke, der Verlag ist das geblieben, für das er immer bekannt war. Und ich glaube auch, dass es mir trotzdem gelang, aus dem Verlag etwas Eigenes zu machen.

Eigentlich hatten Sie nie vor, Verleger zu werden. Warum sind Sie es trotzdem geworden?
Als mein Vater starb, konnte ich mir nicht vorstellen, dass der Verlag an einen Konzern geht oder ohne das Mitwirken der Familie weitergeführt wird. Nicht nur wegen der Inhalte, sondern vor allem wegen der Autorinnen und Autoren, die über die Jahre zu Freunden geworden sind. Sie sind ein Teil unserer Familie und gehören zu meinem Leben.

Sie sagten einmal, mit einem Autor müsse man reden, essen und lachen können.
So ist es. Das Schönste an meinem Beruf ist, dass einem mit diesen begabten Menschen nie langweilig ist. Autoren zu finden, ist wie ein Memory-Spiel: Wenn ich das Buch lese, dann ist das die erste Karte, und wenn ich danach ein Gesicht dazu sehe, quasi die zweite Karte, und beides passt zusammen, dann kommt meistens was Gutes dabei heraus.

Und wenn das Werk genial ist, aber die Augen des Autors lachen Sie nicht an?
Es muss gar niemand lachen. Ich schaue einfach auf den Ausdruck in den Augen und manchmal auch auf die Hände. Das habe ich mir so angewöhnt.

Ein Bauchgefühl?
Wenn ich von meinem Kopf, zum Herz, zum Bauch entscheide, dann geht es bildlich gesprochen in die Hose. Wenn ich es aber umgekehrt mache und es vom Bauch, zum Herz, zum Kopf entscheide, dann funktioniert es meistens.

Mit Dürrenmatt funktionierte es, und trotzdem schafften Sie es kurz vor seinem Tod kaum, ein Foto von ihm zu schiessen.
Ich war im November 1990 im Auftrag des Magazins «Stern» in seinem Haus in Neuenburg, um für einen Artikel zu Dürrenmatts bevorstehendem 70. Geburtstag Bilder von ihm zu machen. Wir schlichen einen ganzen Tag lang umeinander herum, und allmählich wurde es dunkel draussen.

Haben Sie die Chance verpasst?
Nicht ganz. Dürrenmatt hat uns gerettet und holte um die Mittagszeit mit der Bemerkung «Mir si beidi e chli schüüch» eine Flasche aus seinem Weinkeller. Dann legte ich einen lichtempfindlichen Film ein und machte im düsteren Raum den Schnappschuss von Dürrenmatt vor dem Globus. Ein paar Tage später ist er leider gestorben.

Klang, Kunst und Keel

1968 kommt Philipp Keel als zweiter Sohn der Malerin Anna Keel (1940–2010), geborene Diekmann, und des Diogenes-Gründers Daniel Keel (1930–2011) in Zürich zur Welt. Bereits als Jugendlicher begeistert sich Philipp Keel für Fotografie. Nach dem Klavierstudium am Berklee College of Music in Boston (USA) studiert er an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (D) das Fach Regie. Dann geht Keel für ein paar Jahre nach Los Angeles (USA) und etabliert sich als Künstler, Filmemacher und Autor. 2012 wird er Nachfolger seines verstorbenen Vaters als Verleger bei Diogenes mit Bestsellerautoren wie Friedrich Dürrenmatt, Donna Leon oder Martin Suter. Keel arbeitet und lebt in Zürich und ist Vater von zwei Kindern.

Philippe Rossier

1968 kommt Philipp Keel als zweiter Sohn der Malerin Anna Keel (1940–2010), geborene Diekmann, und des Diogenes-Gründers Daniel Keel (1930–2011) in Zürich zur Welt. Bereits als Jugendlicher begeistert sich Philipp Keel für Fotografie. Nach dem Klavierstudium am Berklee College of Music in Boston (USA) studiert er an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (D) das Fach Regie. Dann geht Keel für ein paar Jahre nach Los Angeles (USA) und etabliert sich als Künstler, Filmemacher und Autor. 2012 wird er Nachfolger seines verstorbenen Vaters als Verleger bei Diogenes mit Bestsellerautoren wie Friedrich Dürrenmatt, Donna Leon oder Martin Suter. Keel arbeitet und lebt in Zürich und ist Vater von zwei Kindern.

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