Die grösste Jugendbewegung der Schweiz findet zurück auf den Pfad des Erfolgs: Die Zahl der Pfadfinderinnen und Pfadfinder nimmt hierzulande seit einiger Zeit stetig zu. Waren es auf dem Tiefpunkt 2015 etwas mehr als 42’000, sind es jetzt satte 20 Prozent mehr – der Mitgliederbestand beträgt 2022 genau 50’556.
Woher kommt der Boom? Ein Grund ist eine griffige Massnahme, die man just auf dem Tiefpunkt einführte, um einen weiteren Niedergang zu stoppen. «2015 fand zum ersten Mal der Pfadi-Schnuppertag statt», sagt Martina Schmid von der Fachstelle Kommunikation der Pfadibewegung Schweiz (PBS).
Viele Jugendliche kamen durch diese «stärkere und einheitliche Präsenz in der Öffentlichkeit» (Schmid) offenbar auf den Geschmack: Gemeinschaftliche Abenteuer im Wald am Samstagnachmittag sowie Zeltromantik im Pfingstlager (Pfadideutsch: Pfila) und während der Ferien im Sommerlager (Sola) sind plötzlich wieder reizvoll.
Teil eines grösseren Outdoor-Trends
Gerade für die Generation der Digital Natives ist Freizeit ausserhalb der virtuellen Handy- und Computerrealität draussen in realer Natur eine vollkommen andere Welt. «Die Pfadi ist Teil eines grösseren Outdoor-Trends», sagt Schmid vom PBS. «Viele Menschen fühlen sich zur Natur hingezogen und erkennen, wie schützenswert sie ist.»
Das Bewusstsein für den Klimawandel beeinflusse Pfadiaktivitäten, sagt Schmid weiter. Die Pfadileitenden achten etwa auf einen nachhaltigen Menüplan in den Lagern und sammeln während der traditionellen «Waldputzete» an einem Samstag Müll ein, womit sie die Kinder für das Thema Littering sensibilisieren.
Denn was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Die Umsetzung dieses Spruchs aus dem Volksmund lehrte die Pfadibewegung selbst etwas: Man muss bei den ganz Kleinen ansetzen. Und so gibt es seit 2009 die Biberstufe für Kinder im Vorschulalter als Einstieg in die Pfadi – zuvor waren die 6- bis 10-jährigen Wölfe die Jüngsten.
Das ist ein weiterer Baustein für den heutigen Erfolg der PBS. Denn wer als Kleinkind vereinsmässig ein Racket schwingt oder hinter einem Ball herrennt, der läuft später nicht mehr mit einem Pfadi-Fähnli auf einer Schnitzeljagd durchs Gelände. Wer andererseits dieses Naturerlebnis früh erfährt, geht später nicht mehr in einen Tennis- oder Fussballklub.
Ohne Leistungsdruck und Aufsicht der Eltern
Denn Pfadi hat einen entscheidenden Vorteil: Es stehen keine einpeitschenden Eltern an den Seitenlinien. Ein Samstagnachmittag im Wald und insbesondere ein zweiwöchiges Sommerlager auf dem Land ist eine gruppendynamische Erfahrung mit Gleichaltrigen ohne Leistungsdruck und ohne Oberaufsicht durch Erwachsene.
Helikopter-Eltern der Generation Y sind es mitunter, die Mitte der 1990er-Jahre zu einem zwei Jahrzehnte andauernden Mitgliederschwund in der Pfadibewegung Schweiz führen: Wer seinen Nachwuchs unter Dauerkontrolle haben will, der schickt ihn nicht unter freien Himmel in die Obhut von selbst noch pubertierenden Rudel-Leiterinnen und Fähnlein-Führern.
Seit ein paar Jahren landen aber immer mehr Helikopter-Eltern auf dem Boden der Realität. Insbesondere die Corona-Pandemie mit Lockdowns, Schulschliessungen und Homeschooling zeigte vielen Vätern und Müttern den Wert auf, wenn ihre Töchter und Söhne mit anderen Kindern im Grünen rumtollen können.
Kein Zufall, macht die Mitgliederzahl der PBS gerade jetzt im ersten Lockerungsjahr nach der Pandemie einen Sprung über die 50’000-Marke – das erste Mal seit 20 Jahren! Zwar ist die Rekordzahl von 1968 mit über 65’000 Pfadis noch in weiter Ferne, aber das diesjährige Bundeslager (Bula) in Goms VS mit 30’000 Campenden aus dem In- und Ausland dürfte einen weiteren Schub geben.
Jugendlichen Vertrauen entgegenbringen
Die Pfadfinderbewegung hat eine lange, länderübergreifende Tradition. 1907 gegründet vom Engländer Robert Baden-Powell (1857–1941; in der zweisilbigen Pfadisprache BiPi genannt), haben heute die beiden ursprünglich nach Geschlecht getrennten Weltverbände über 40 Millionen Mitglieder in 161 Ländern – nur in Andorra, China, Kuba, Laos und Nordkorea gibt es gemäss Weltverband keine Pfadfinder.
Wie kam Baden-Powell auf die Idee dieser Jugendbewegung? Mit 19 Jahren tritt er in den Dienst der königlichen Armee ein und bildet in der damaligen britischen Kolonie Indien Späher aus, sogenannte «Scouts», die unbekannte Gebiete auskundschaften sollen. Statt strikte Anweisungen zu geben, führte er die Scouts nach dem Prinzip «Lernen durch Handeln» («Learning by Doing»).
Jugendliche sind dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen, wenn man ihnen nur das nötige Vertrauen entgegenbringt: Diese Einsicht gewinnt Baden-Powell nach einem Einsatz in Südafrika um das Jahr 1900 – eine revolutionäre Einsicht in einer Zeit, in der Pädagogen noch strenge und autoritäre Erziehung propagieren.
Trotz dieser antiautoritären Züge hat die Pfadibewegung bis heute eine von Kavallerie-Offizier Baden-Powell geprägte militärische Struktur. Die zeigt sich im khakifarbenen Uniformhemd, aber auch in immer noch gebräuchlichen sprachlichen Ausdrücken wie «Antreten», «Abtreten» oder «Truppleiter».
«Wir Pfadis wollen unsere Hilfe anbieten»
Momentan erfährt das Militär durch den Ukraine-Krieg eine breitere Akzeptanz – so ist die Zahl derer, die die Schweizer Armee für notwendig erachten, gemäss einer aktuellen ETH-Studie während dieses Jahres um 5 Prozent auf 80 angestiegen. Färbt das auch auf die Pfadibewegung ab und verhilft ihr zu weiteren Beitritten? Martina Schmid von der PBS sieht keine Wechselwirkung.
Sie verweist darauf, dass schon die beiden Weltkriege keinen erkennbaren Einfluss auf die Mitgliederzahlen des 1913 gegründeten Schweizerischen Pfadfinderbunds (SPB) oder des 1919 gegründeten Bunds Schweizerischer Pfadfinderinnen (BSP) hatte – 1987 fusionierten die beiden Bünde zur geschlechtsneutralen Pfadibewegung Schweiz (PBS).
Der Eindruck von mehr Pfadis in Kriegszeiten könne entstehen, da sie in diesen Zeiten sichtbarer seien, sagt Schmid. Denn gemäss ihrem Grundsatz «Wir Pfadis wollen unsere Hilfe anbieten» seien sie meistens dort, wo Unterstützung benötigt werde. Schmid: «In der aktuellen Situation tut die Pfadi ihr Bestes, um einen Beitrag zur Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher zu leisten.»
Konkret heisst das: Junge Ukrainerinnen und Ukrainer können in der Pfadi die Sprache und das Leben in der Schweiz in einem geschützten Rahmen spielerisch kennenlernen, so Schmid. Und weiter sagt sie: «Gemeinsam mit Gleichaltrigen spielen, lachen, singen, kochen und basteln sie – sie sind für einen Moment einfach nur Kind.»