Und immer wieder kommt er auf Farben zu sprechen. Dass er seinen Lieblingsfisch – einen Arowana aus dem Amazonas – zum Beispiel erst taufen wolle, wenn klar sei, wie das Tier aussieht, wenn es etwas gewachsen ist. «Wenn sich sein Körper ins Rötliche verfärbt, werde ich ihm einen anderen Namen geben, als wenn er sich ins Smaragdgrüne entwickelt.» Oder die beiden Pingpong-Schläger-grossen Pfauenaugenbuntbarsche, auch Oskars genannt, die in ihrem Aquarium über der Kunststoffattrappe eines Alligatorschädels umherschwimmen. Er nennt sie «meine orangen Boliden».
«Seaworld Adliswil» nennen seine Freunde die Wohnung von Nicolas Müller (32). Der Zürcher, der unter der Woche als Treuhänder für eine internationale Firma beim Zürcher Paradeplatz arbeitet, steht in seiner Stube. Die Jalousien sind halb geschlossen, um das Algenwachstum in den Aquarien nicht zu beschleunigen. Im Raum der Dreieinhalbzimmerwohnung im ersten Stock eines kleinen Mehrfamilienhauses, das er vor fünf Jahren bezog, leuchten die Wände von den insgesamt acht Süsswasseraquarien. Das grösste von ihnen beinhaltet 450, alle zusammen 1730 Liter Wasser.
Dreissig verschiedene Arten leben hier. Von der drei Millimeter grossen Garnele bis zum 25 Zentimeter langen Fisch. Vom Lebendgebärenden zum Maulbrüter und Eierleger. Vom Pflanzen- zum Fleischfresser. Müller besitzt Piranhas und einen pechschwarzen Feuerschwanz mit leuchtend roter Schwanzflosse. Vor einem Glas präsentiert sich ein vergnügter «Blue Jack Dempsey»-Buntbarsch in voller Pracht der Kamera des Fotografen. Etwas schüchterner ist ein daumengrosser Leopard-Kugelfisch namens Leo. Er zeigt sich erst, als Müller ihm eine kleine Schnecke zum Frass vorwirft. Das Tier saugt das Schneckenhäuschen aus und wirft es leer auf den Grund. Der Kugelfisch müsse harte Nahrung konsumieren, sagt Müller, sonst würden seine Zähne zu lang wachsen, er könnte nichts mehr fressen und würde verhungern.
Fast doppelt so viele Fische wie Katzen in der Schweiz
Die Zierfischhaltung ist in der Schweiz beliebt. Gemäss einer Umfrage des Schweizer Tierschutzes (STS) aus dem Jahr 2017, für die er 1000 Haushalte befragen liess, leben in unserem Land rund drei Millionen Zierfische in privaten Aquarien. Zum Vergleich: Vergangenes Jahr waren in der Schweiz rund 1,7 Millionen Katzen und rund eine halbe Million Hunde angemeldet.
So beliebt sie auch sind, so wenig wissen ihre Halter oft über ihre schwimmenden Mitbewohner. Viele schaffen sich Fische aus ästhetischen Gründen und aus dem Moment heraus an. Aus diesem Grund lancierte der STS gemeinsam mit dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) am 31. August die Kampagne «Aquarienfische sind keine Deko-Objekte» mit konkreten Tipps für potenzielle Fischhalter.
Sie sind schnell zusammengefasst: die Wasserhärte am Wohnort berücksichtigen, ein möglichst grosses Aquarium kaufen, maximal drei Arten auf einmal halten und – vor allem – sich vor dem Kauf gut informieren. «Wir gehen davon aus, dass ein beträchtlicher Teil der Spontankäufer mit der Pflege eines Aquariums überfordert ist», sagt Kaspar Jörger, Abteilungsleiter Tierschutz beim BLV. «Viele der spontan gekauften Fische sterben bereits in den ersten Monaten. Bei richtiger Haltung können manche Arten jedoch weit über zehn Jahre alt werden.»
Tiere «gratis zum Abholen»
Leider habe der Occasionsverkauf extrem zugenommen, sagt Nicolas Müller. «Heute stellst du zwei Fotos eines Fischs auf Tutti, Ricardo oder Facebook, schreibst ‹Gratis zum Abholen› – und schon bist du jede Art von Fisch sofort los.» Meistens kriege man das Becken samt Untergestell, Heizstäben und Sand gleich mit dazu. «Ich finde das schade.» Als er sich vor zwei Jahren seine Oskars kaufte, sei für ihn klar gewesen, dass er sie bis zu ihrem Lebensende nicht mehr weggeben würde. Sie werden bis zu zwanzig Jahre alt. Seine Haibarben noch älter.
Dass Fische wenig Beaufsichtigung brauchen, stimmt nur bedingt. Ein Stromausfall oder ein totes Tier, das zu lange im Wasser liegt, kann sich verheerend auf die Wasserwerte auswirken. Wenn Müller in die Ferien fährt, schauen Freunde täglich zu seinen Tieren. Oder seine Schwester. Als er ein halbes Jahr in Genf arbeitete, zog sie vorübergehend bei ihm ein. «Dafür werde ich ihr ein ganzes Leben lang dankbar sein.»
Müller gab sich kürzlich in der Zooabteilung eines Baumarkts als ahnungsloser Kunde aus. Ein junger Oskar-Fisch stand zum Verkauf. Müller erkundigte sich bei der Verkäuferin, wie gross das Aquarium für den Fisch sein müsse, wenn er mal ausgewachsen sei. «Sie sagte 200 Liter. Es braucht aber mehr als doppelt so viel.» Er habe den Oskar dann gekauft. Müller wollte nicht, dass er in die Hände von jemandem gerät, der so schlecht beraten wurde. «Falsch angeschrieben war er auch noch.»
LED-Beleuchtung fürs Aquarium ist der letzte Schrei
500 Franken pro Monat gibt er allein für Futter aus. Sei erstes Aquarium erhielt er mit zwölf Jahren zu Weihnachten, inzwischen besitzt er Tanks im Wert von rund 7000 Franken. Sein wertvollster Fisch ist ein rund 20 Zentimeter grosser Wels mit einer speziellen Morphe, wie die Musterung genannt wird. Er hat einen Wert von 800 Franken. Das ist aber eher die Ausnahme. Fische sind günstig zu kaufen. Ein typischer Einsteigerfisch wie ein Guppy kostet im Laden nur ein paar Franken.
Meist kauft Müller in kleineren Zoofachgeschäften wie dem Aquarium Seerose in Zürich ein. Sandra Leuch, Geschäftsführerin des Shops in der Innenstadt, schätzt, dass sie mit Fischen und Zubehör seit Beginn der Pandemie 20 Prozent mehr Umsatz gemacht hat als davor. Die Leute hätten mehr Zeit und Geld zur Verfügung gehabt, sagt sie. «Viele Eltern schafften sich für die Kinder neu ein Aquarium an.» Kunden, die schon lange eines besitzen, machten ein Upgrade. «Indem sie zum Beispiel von normaler Beleuchtung auf LED umstellten.»
In der einzigen Schweizer Auffangstation für Zierfische in Sursee LU geben Halter pro Woche im Durchschnitt rund 300 Fische ab. Aqualuz, wie die Auffangstation heisst, verfügt mittlerweile über 150 Aquarien mit rund 4000 Tieren, die auf neue Käufer warten. Das Interesse an der Aquaristik sei sowieso schon hoch in der Schweiz, sagt Elias Müller, einer der zwei Brüder, die Aqualuz nebenberuflich leiten. Seit Beginn der Pandemie sei das Interesse noch gestiegen.
Plötzlich wollen alle Diskusfische besitzen
Bis jetzt fängt Aqualuz nicht überdurchschnittlich mehr Fische auf als vor der Pandemie. «Die grosse Welle wird wohl erst noch kommen.» Viele Anschaffungen seien unüberlegt. «Salopp gesagt, suchen sich manche Leute Fische so aus, dass sie zu ihrem Sofa passen.» Oder es gibt Trends, denen alle hinterherrennen. Im Moment wollen plötzlich alle Diskusfische besitzen. Sie seien zwar wunderschön, bräuchten aber Wasser mit speziell tiefem pH-Wert. Den könne man mit dem Einsatz von Chemikalien erreichen. Das ist kontraproduktiv für die Filtermedien und die Wurzeln der Wasserpflanzen.
Wenns so schwierig ist und Tiere schnell einmal leiden – wie okay ist es überhaupt, Fische in Aquarien zu halten? Das sei die grosse Frage, sagt Verhaltensbiologin Claudia Kistler von der Fachstelle Fischwissen, die an der Entstehung der Kampagne des BLV beteiligt war. Es sei nun einmal eine Tatsache, dass die Menschen Zierfische halten würden. «Es hat ja auch positive Seiten. Man kommt in Kontakt mit Tieren, die man sonst nicht sehen würde. Das fördert das Bewusstsein für sie.»
Etwas, was gemäss Kistler nötig ist, denn Fische würden oft wie Tiere zweiter Klasse behandelt. «Vielleicht liegt es daran, dass sie sich weniger gut bemerkbar machen können als eine Katze oder ein Hund.» Sie nennt die Comic-Fischfigur Dorie aus dem Disneyfilm «Findet Nemo» als Beispiel einer Klischeevorstellung eines Wesens mit einem Drei-Sekunden-Gedächtnis, das alles gleich wieder vergisst. Fische hätten aber ein gutes Gedächtnis. Sie könnten sich zum Beispiel nach längere Zeit daran erinnern, wo in einem Aquarium sie ihr Futter finden.
Glücklich liierte Barsche sind zuversichtlicher bei der Futtersuche
Die Emotionsforschung untersucht, ob Fische Gefühle haben. Kistler nennt einen Versuch, bei dem die Zuversicht von weiblichen Buntbarschen getestet wurde, die mit einem Männchen zusammenlebten, mit dem sie sich gut verstanden. Dazu wurde gemessen, wie lange es dauerte, bis ein Weibchen eine Box öffnete, in der Nahrung zu erwarten war. Im Vergleich zu Buntbarschweibchen, die in weniger glücklichen Beziehungen lebten, zeigten sich die glücklich Liierten optimistischer, dass sich in der Box tatsächlich ein Futterstück befand. Kistler: «Wenn es Fischen nicht gut geht, zeigen sie das. Sie werden dann zum Beispiel bleich.»
Das Phänomen kennt auch Nicolas Müller. «Er ist wieder etwas goldiger geworden – es scheint ihm besser zu gehen», sagt er über einen Goldfisch, den er kürzlich spontan von einer fremden Person übernahm, die ihn in einem Zoo-Shop zurückgeben wollte. Müller vermutet, dass das Tier in einem zu kleinen Aquarium gehalten wurde, weil es eine Art Buckel hat. Wenn Goldfische nicht genügend Platz haben, wachsen irgendwann nur noch ihre Organe, was zu Ausstülpungen führt und irgendwann zum Tod.
Spricht er mit seinen Fischen? «Ja», sagt Müller. Manchmal rede er ihnen gut zu, wenn sie sich streiten. Meistens schaue er ihnen aber einfach zu. «Den Fernseher schalte ich fast nur für Fussball an.» Sonst sitzt er abends auf einem Schemel vor den Tanks. «Für mich ist das die perfekte Abwechslung zum Arbeitsalltag, wo ich mich um finanzielle Anliegen meiner Kunden kümmere. Fische sind so berechenbar.» Er habe auch schon versucht, einen zu zeichnen. «Aber ich bin definitiv zu unbegabt.» Bei seinem Lieblingsfisch, dem Arowana aus dem Amazonas, habe er das Gefühl, dass er ihn beobachte, wenn er in der Wohnung herumlaufe. «Ich schaue zu ihm. Und er schaut zu mir.»