Bei den Pfadfinderinnen gelernt
Wie die Pfadi Mädchen zu Chefinnen machte

Viele Schweizer Frauen, die später Führungspositionen einnahmen, haben in der Pfadi angefangen. Warum die Pfadi früher einer der raren Freiräume für junge Frauen war und warum sie trotzdem mit den Buben fusioniert haben, erklären zwei führende Pfadfinderinnen.
Publiziert: 16.07.2022 um 11:19 Uhr
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Aktualisiert: 16.07.2022 um 12:19 Uhr
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Sibyll Kindlimann, erste Rektorin der Schweiz, ist noch immer in der Pfadi aktiv – und auch sonst sehr engagiert.
Foto: Marc Dahinden
Silvia Tschui

«Also Führen, das hat man gelernt!» Das sagt eine, die es wissen muss: Sibyll Kindlimann (89) aus Schwanden GL war früh ein national führendes Mitglied der Meitlipfadi – und ist wandelnde Pfadigeschichte: ab 1944 mit dabei, ab 1958 auf Bundesebene aktiv, von 1971 bis 1979 Bundesführerin und von 1979 bis 1983 Präsidentin des Bundes Schweizer Pfadfinderinnen (BSP). Als die Meitlipfadi und die Bubenpfadi 1987 nach fünf Jahren zäher Verhandlungen fusionierten, war sie Co-Präsidentin der Fusionskommission. Co-Präsidentin deshalb, weil es in der Kommission eine Präsidentschaft der Meitli- und eine der Bubenpfadi (Schweizer Pfadfinderbund) gab. Aber dazu später mehr.

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Im Gespräch fragt Kindlimann ziemlich früh, ob ich, die Interviewerin, denn auch in der Meitlipfadi gewesen sei. Bin ich. «Dann sagen wir dänk Du», sagt sie, die im Übrigen in der Pfadi «Bill» hiess – ihrer seit jeher tiefen Stimme wegen – «übrigens nicht, weil ich geraucht hätte!».

Dass sie Führen gelernt hat, zeigt nicht nur die für die Anliegen der Frauen sehr gelungene Fusion, sondern auch ihr späterer Werdegang. Kindlimann war die erste Rektorin eines Gymnasiums, die der Kanton Zürich je gesehen hat: Von 1986 bis 1999 leitete sie die Kanti Winterthur. Sie war zudem – neben ihrem kulturellen Engagement für die Museumslandschaft Winterthur – als Politikerin tätig: 1974 wurde sie als eine der zwei ersten Frauen in den Grossen Gemeinderat von Winterthur gewählt.

Bundesrätin, Stadträtin, Rektorin – alles Ex-Pfadis

Mit diesem aussergewöhnlichen Werdegang ist sie in allerbester Pfadfinderinnen-Gesellschaft – zumindest, wenn man einige frühe weibliche «Movers and Shakers» der Schweiz unter die Lupe nimmt: Elisabeth Kopp, erste Bundesrätin der Schweiz; Josi Meier, erste Präsidentin des Ständerats; Esther Maurer, ehemalige Zürcher Stadträtin und Polizeivorsteherin – sie alle waren in der Meitlipfadi.

Sandra Maissen ist heute zwar nicht mehr sehr aktiv in der Pfadi wie früher als ehemalige Co-Präsidentin, aber sie besucht «natürlich» nächste Woche das Bundeslager. Auch sie sagt: «Die Maitlapfadi prägt mein berufliches und privates Leben bis heute» – und meint damit nur Positives. Von Freundschaften über die Beziehung zu ihrem Mann bis zu Führungsqualitäten, Teamfähigkeit, Durchsetzungskraft und Kreativität: Vieles habe seinen Anfang in der Pfadi gefunden. Und auch sie fragt als Erstes nach meinem Pfadinamen. «Silex», sage ich, benannt nach dem Feuerstein. «Ich bin Cosinus, kurz Cosi», sagt Sandra Maissen – auch mit ihr bin ich sofort per Du.

Frauen haben gelernt, Verantwortung zu übernehmen

Die Verbundenheit, die aus einer geteilten Pfadi-Vergangenheit, die noch nicht einmal gemeinsam gewesen sein muss, entsteht, wirkt bis heute. Über Abteilungen, Trupps und Fähnli, über verschiedene Generationen hinweg. Aber nicht nur das. Denn dass in frühen (und heutigen) Führungspositionen, die von Frauen teilweise hart erkämpft wurden, viele ehemalige Meitlipfadi-Leiterinnen vertreten sind, ist für Kindlimann und Maissen keine Überraschung. «Die Meitlipfadi war der einzige Ort, an dem Meitli und junge Frauen selbstverwaltet Verantwortung übernehmen konnten, gelernt haben, Dinge zu planen – und auch gemerkt haben, dass die Welt nicht untergeht, wenn etwas schief läuft», sagt Kindlimann. «Das hat uns Bereitschaft zum Wagnis gegeben, die sonst schwieriger zu entwickeln gewesen wäre.» Und sie sieht eine weitere Stärke in der Meitlipfadi: «Die Buebe waren sehr aufs Technische eingestellt: Knoten, Seilbrücken, Morsen … das haben wir alles auch gemacht, aber bei uns gab es mehr Raum für Kreativität, wir waren verspielter, haben uns Mottos ausgedacht, es gab Raum für Fantasie. Das wirkt später im Leben nach: Man ist mutiger, wagt mehr, ist kreativer.» Und Maissen sagt: »Wenn man sich die Pfadigrundsätze und Methoden zu Herzen nimmt, etwa mitzubestimmen, Verantwortung zu tragen und sich in der Gesellschaft zu engagieren, kann Mann oder Frau Gutes bewirken – für die Gesellschaft, für die Mitmenschen, für die Natur und für sich selbst.»

Das alles ist – schon für Frauen, die noch eine Generation jünger waren als Kindlimann – ab 1911 vereinzelt möglich. Damals bilden sich in der Schweiz die ersten Pfadfinderinnen-Gruppen, inspiriert von der englischen Pfadibewegung, die Robert Baden-Powell und seine Schwester Agnes Baden-Powell ab 1907 befeuert haben. England bleibt weiterhin ein leuchtendes Vorbild, und die Vernetzung mit englischen Pfadfinderinnen ermöglicht jungen Schweizer Frauen einen damals seltenen Blick über den Tellerrand hinaus: Internationale Zusammenarbeit und Kontakte erlauben es sowohl Sibyll Kindlimann wie auch eine Generation später Sandra Maissen, Pfadilager in England zu organisieren – alles selbstbestimmt.

Die erste Quotenregelung der Schweiz

Dass dieser Freiraum für junge Frauen 1987 überhaupt mit der Bubenpfadi fusioniert wurde, habe praktische und finanzielle Gründe gehabt, sagt Kindlimann. «Nur schon die Organisation von Lagerhäusern und Material war so einfacher. Oder eine gemeinsame Zeitung herauszugeben.» Sie hätten aber sehr befürchtet, von den Jungs einfach verschluckt zu werden. «Wir waren kreativ, selbstbestimmt; und die, die wie ich eine Rotkreuz-Pfadi-Ausbildung gemacht haben, wussten sogar, wie man ein provisorisches Spital errichtet. Und wir waren jünger, internationaler vernetzt und näher an der allgemeinen Jugendbewegung dran. Das alles wollten wir nicht aufgeben.»

Die gesellschaftliche Realität war aber anders: «Wir Frauen wurden ja gar nie gefragt, was wir wollen. In der Gesellschaft – überall – haben Männer einfach bestimmt.» Das sei auch bei der erwähnten Fusion so gewesen – zuerst. In Sitzungen, sagt Kindlimann, sei oft von den jungen Männern gesagt worden: «Wir schlagen das und das vor, ihr seid ja sicher einverstanden.» Und das sei eigentlich nicht als Frage formuliert gewesen. Dass die jungen Frauen manchmal nicht einverstanden gewesen seien, habe ab und zu doch zu Erstaunen geführt, so Kindlimann trocken.

Doch Kindlimann hat als Co-Präsidentin für eine Fusionierung auf einer wesentlichen Struktur bestanden:

Keine Alleinführung einer Pfadiabteilung durch einen jungen Mann – es müssen immer eine Abteilungsleiterin und ein Abteilungsleiter gemeinsam leiten, auch auf Kantons- und Bundesebene für wichtige Aufgaben und Funktionen. Nur in den Gruppen und Trupps der Jüngsten, wo die Bedürfnisse oft sehr verschieden sind, wird entschieden, ob die Geschlechter getrennt oder zusammen geführt werden.

Kindlimann hat sich mit dem Prinzip der Co-Führung, also mit stets gemeinsamer Führung und Verantwortung durch einen Mann und eine Frau, in der Fusionskommission durchgesetzt. Das ist bis heute so geblieben. Ideen, Anliegen und Vorschläge von Männern und Frauen kommen deshalb in der Pfadi gleichberechtigt zur Geltung und beeinflussen sich gegenseitig positiv.

Ein weiterer positiver Nachhall: Die «Bienli», also die Stufe des Meitlipfadi-Nachwuchses, dessen Name im Vergleich zu den «Wölfli» mit «arbeitsam» und «zielstrebig» konnotiert ist, gibt es nicht mehr. In der zweitjüngsten Stufe heissen seit 2008 alle «Wölfe».

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