Wer hat Velo erfunden?
Der Knirps wankt. Auf seinem hölzernen Zweirad sitzend, läuft er das Trottoir lang und gerät in Schräglage. Die helfende Hand der Mutter bewahrt ihn vor einem Sturz. Eine Szene, wie man sie gegenwärtig im Alltag ständig auf den Schweizer Strassen sieht.
Eine Szene, die am 12. Juni 1817 noch einzigartig ist – und damals, vor 200 Jahren, in Mannheim (D) eine Revolution einläutet. Auf dem klapprigen, gut 20 Kilogramm schweren Holzgestell ohne Pedale sitzt ein gestandener Herr von 32 Jahren: Karl Freiherr von Drais (1785–1851).
Und was er präsentiert, ist eine Sensation: das erste einspurige Zweirad, der Vorläufer des heutigen Velos. Mit eisenbeschlagenen Rädern poltert der Tüftler an jenem Donnerstag von der Mannheimer Innenstadt nach Schwetzingen – und lässt die Menschen staunen.
Der Adlige – mit vollem Namen Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn – testet auf der gut 13 Kilometer langen Strecke während einer Stunde seine neuste Erfindung. In der Badischen Revolution legt er später seinen Adelstitel ab und nennt sich fortan nur noch Bürger Karl Drais. Sein Gefährt, die zunächst nach ihm benannte Draisine, wandelt sich mit einigen technischen Weiterentwicklungen vom adligen Spielzeug zum kommunen Velo.
Über 2,5 Milliarden Velos kurven um die Welt
Vom Einzelstück zur Massenware: Heute schätzt man den weltweiten Fahrradbestand auf zweieinhalb bis drei Milliarden Stück. Und jedes Jahr bringen Hersteller über 130 Millionen neue Velos auf den Markt – doppelt so viele wie Autos. Der globale Umsatz der Fahrradbranche dürfte jährlich 38 Milliarden Franken überschreiten. Alleine in der Schweiz kamen vergangenes Jahr 324'000 neue Velos in den Verkauf. Gut die Hälfte Sporträder, ein Viertel E-Bikes – Tendenz hier steigend.
«Im Alter schliesse ich einen Umstieg auf das E-Bike nicht aus», sagt der Berner SP-Nationalrat und Pro-Velo-Schweiz-Präsident Matthias Aebischer (49), «doch im Moment bin ich sehr zufrieden mit meinem Militärfahrrad.» Aebischer bezeichnet sich als Alltagsfahrer, radelt bei jeder Gelegenheit rauf und runter durch die Berner Innenstadt.
Aebischers Militärvelo ist eines von 2,5 bis 2,8 Millionen Fahrrädern, die auf Schweizer Strassen verkehren. Damit spult man hier auf jeden Einwohner runtergerechnet 270 Kilometer pro Jahr ab – das entspricht nicht einmal zwei Etappen der diesjährigen Tour de Suisse (10. bis 18. Juni). Keine Meisterleistung.
Zum Vergleich: In den Niederlanden sind es rund 860 Kilometer, in Dänemark 500 und selbst in Deutschland noch 350. Das Problem ortet Politiker Aebischer bei der Verkehrsplanung: «Während Städte anderer Länder Schnellstrassen, Brücken und Wegnetze für Velos bauen, streiten wir noch immer um Radstreifen.»
Schweizer Jugendliche lassen das Velo zusehends stehen
Bei Schweizer Jugendlichen ist die Velonutzung denn auch dramatisch zurückgegangen: Fuhren bis in die 1990er-Jahre noch 21 Prozent Teenager mit dem Velo zur Schule oder lieferten sich zumindest in der Freizeit auf Quartierstrassen Radrennen, so hat sich deren Zahl zwischen 1994 und 2010 fast halbiert.
Als Gründe sieht der Verband Pro Velo den massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs und die emsige Nutzung der Smartphones – das lässt sich auf einem Tram- oder Bussitz bequemer und sicherer bedienen als im Sattel. Mit dem Projekt «bike2school» will Pro Velo Schweiz nun diesem Trend entgegenwirken und die Jugendlichen vom elektrischen Mobile zur Mobilität mit Muskelkraft zurückbringen.
In der Not setzt man eher auf den Drahtesel
Vielleicht braucht es mehr, um dem Rad in der Schweiz Schwung zu verleihen. In der wechselvollen Geschichte des Fahrrads gab es immer wieder Zeiten, in denen der Drahtesel im Keller vor sich hinrostete. Und andere, in denen alle auf das erschwingliche, unverwüstliche, von Treibstoff unabhängige Vehikel setzten.
Mitunter waren Krisen ein wichtiger Motor: Die Nachkriegszeit etwa war speziell in Deutschland eine solche Notsituation, während der Ölkrise in den 1970ern wechselte man auch bei uns vom Vier- aufs Zweirad – und befuhr damit sogar Autobahnen.
Eine Notsituation soll es auch gewesen sein, die Karl Freiherr von Drais 1817 zur Erfindung des Fahrrads getrieben hat – zumindest, wenn es nach dem deutschen Physiker und Technikhistoriker Hans-Erhard Lessing (79) geht, der eben das Buch «Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte» im Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht hat. Lessing stellt einen Zusammenhang zwischen einem Vulkanausbruch in Indonesien und der Erfindung in Deutschland her.
Stand ein Vulkanausbruch am Anfang der Siegesfahrt?
1815 bricht östlich von Bali der Vulkan Tambora aus und verschlechtert das Weltklima nachweislich, sodass es in den Folgejahren selbst im weit entfernten Europa zu Ernteausfällen und damit zu Futterengpässen für Pferde kommt. Tiere sterben. Und wenn der Adel nicht mehr reiten kann, sattelt er eben auf den Vorläufer des Drahtesels um, damit er schnell vorankommt.
Tatsächlich ist die Draisine in den ersten Jahren vor allem bei der Oberschicht ein sehr beliebtes Fortbewegungsmittel. «Ein Zeitzeuge bestätigt die Drais’sche Motivation Anfang 1818», sagt Lessing, und er zitiert den Pariser Louis-Philippe Comte de Ségur: «Draisinen, merkwürdige Fuhrwerke, die den Luxus von Pferden abzuschaffen und den Hafer- und Heupreis zu senken gedacht sind.»
5000 Jahre von der Erfindung des Rads zum Zweirad
Andere Wissenschaftler hinterfragen die Tambora-Hypothese. «Die für ein schnelleres Vorankommen entwickelte Laufmaschine hätte die zugkräftigen Pferde und Ochsen nie und nimmer ersetzen können, die damals Landwirtschaft und Verkehr in Schwung hielten», sagt der deutsche Publizist Johann-Günther König (64), von dem zum Jubiläum das Buch «Fahrradfahren» bei Reclam erschienen ist. «Deshalb liegt der Gedanke nahe, dass der Geistesblitz des Erfinders unabhängig von der zumal übertrieben dargestellten Klimakatastrophe zuckte.» Lessing bleibt bei seiner These – und hält Einwände für absurd, für nicht belegt.
Wie dem auch sei: Interessant ist die Tatsache, dass es von der Erfindung des Rads bis zu jener des Zweirads über fünftausend Jahre dauerte. In der Zwischenzeit hat man das Rad vor sich hergeschoben oder – meist durch Tiere – hinter sich hergezogen. Erst Karl Freiherr von Drais kam auf die Idee, sich quasi auf das Rad draufzusetzen und es balancierend in Bewegung zu setzen.
Sein Gefährt macht die Arbeiterschaft mobil und unabhängig vom Fabrikstandort – und bläst überdies den Frauen Wind in die Haare, befördert deren Emanzipation. «Ich bin überzeugt, dass es mehr als jede andere Sache zur Befreiung der Frau beigetragen hat», sagt 1896 US-Frauenrechtlerin Susan Anthony. Denn die Frauen können sich erstmals selbständig weg von Heim und Herd bewegen.
Hans-Erhard Lessing hat eine einfache Erklärung, weshalb niemand schon früher auf die Erfindung des Fahrrads kam: «Es gibt dafür kein Vorbild in der Natur, wie etwa der wirbelnde Ahornsamen für den Tragschrauber.»
Ist Drais also ein Genie, ohne das wir bis heute keine Fahrräder hätten? Der österreichische Soziologe und Kulturanthropologe Roland Girtler (75), der sich als Kulturwissenschaftler auf dem Fahrrad bezeichnet und Werke mit Titeln wie «Vom Fahrrad aus» publiziert hat, ist überzeugt: «Hätte Meister Drais die Draisine nicht erfunden, so hätte es jemand anderer getan – das Fahrrad ist eine logische Entwicklung der Menschheit.»
Für Amische ist das Zweirad noch immer verboten
Diesem Schluss widerspricht Lessing in seinem Buch «Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte» und verweist zur Beweisführung auf die Sekte der Amischen, die in der östlichen Hälfte Nordamerikas lebt: «Rollschuhe sind den Kindern der Amischen zwar neuerdings erlaubt, nicht überall aber Fahrräder, die ihnen viel zu technisch sind.» Sein Schluss: «Wäre die Religion der Amischen-Sekte von Pennsylvania und Ontario zur Staatsreligion des Abendlandes gediehen, hätten wir mit Sicherheit weder Velos noch Autos.»
Kultur und Zeitgeist standen der Schussfahrt aber nicht im Weg. Das Velo hat laut Philosoph Girtler beides geprägt: «Während Autofahrer dazu neigen, andere bereits bei kleinen Fehlern übel zu beschimpfen, schweigt der echte Radfahrer bei Fahrfehlern anderer – oder lächelt nachsichtig.»
Der Mensch habe etwas Nobles, wenn er langsam dahinradle oder ein Rad schiebe, sagt Girtler und fügt mit Wiener Schmäh an: «Wahrer Adel fährt am Radl.» Eben genau so, wie vor 200 Jahren.