Wie Selenski die Schweiz um den Finger wickelte
Der Fluch des Bürgenstocks

Die Nichteinladung Russlands bleibt der grosse Makel der Ukraine-Konferenz. Durchgeboxt hat das der politisch angeschlagene Wolodimir Selenski – dank eines schwachen Bundesrats.
Publiziert: 16.06.2024 um 00:44 Uhr
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Aktualisiert: 16.06.2024 um 21:22 Uhr
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Ikone der Weltpolitik: Wolodimir Selenski am Samstag auf dem Bürgenstock.
Foto: keystone-sda.ch
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Milana nimmt ihr Handy hervor und zeigt ein verstörendes Video. Darin ist zu sehen, wie Männer irgendwo an einem Strassenrand auf ein am Boden liegendes Opfer einprügeln. Immer wieder. Faustschläge und Tritte kassiert der arme Teufel, der hinter dem hohen Gras nicht zu erkennen ist. Die Schläger tragen Camouflage-Hosen und kakifarbene Pullover, sie scheinen Armeeangehörige zu sein.

«So werden in der Ukraine junge Männer behandelt, die sich noch nicht für den Krieg registriert haben», sagt Milana. Sie stammt aus Kiew und pflegt nach wie vor Kontakt zu Verwandten und Bekannten vor Ort. Es kursieren Geschichten über Gruppen von 70 bis 80 Militärs, die in jeder ukrainischen Kleinstadt unterwegs seien, um Jagd auf mögliche Kriegsdienstverweigerer zu machen.

Wir treffen Milana Anfang Juni in Zürich. Sie ist 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines Sohnes im Teenageralter und lebt seit zwei Jahren in der Zürcher Agglomeration. Sie ist eine von rund 66'000 ukrainischen Staatsangehörigen, die in der Schweiz Zuflucht vor dem russischen Angriffskrieg gefunden haben und über den Schutzstatus S verfügen.

Geldstrafe für die ganze Familie

Die Echtheit des erwähnten Videos ist nicht überprüft, doch ist etliches solches Material in ukrainischen Chats und Foren im Umlauf, wie Milana zeigt, die in Wahrheit anders heisst. «Sie fangen alle, manchmal auch Rentner, und bringen sie direkt zu den Registrierungsstellen», sagt sie. «Hier ist es jetzt fast wie in Russland.»

Die Ukraine befindet sich im dritten Kriegsjahr. Die Stimmung hat sich noch mehr verschlechtert, seit die Regierung am 11. April das verschärfte Wehrpflichtgesetz verabschiedet hat. Neu sind bereits 18-Jährige dienstpflichtig. Jedem Mann bleiben zwei Monate Zeit, um sich für die Verteidigung des Vaterlands zu registrieren. Wer sich nicht freiwillig gemeldet hat, erhält eine Geldstrafe für die ganze Familie. Milana: «Unsere Männer trauen sich nicht mehr, das Haus zu verlassen. Meine Brüder haben Angst, zu ihren Eltern zu gehen. Auf der Strasse könnten sie dich erwischen und in den Krieg schicken.» Wer es sich leisten könne, kaufe sich mit Bestechungsgeld frei.

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Die Ukraine belegt im Korruptionswahrnehmungsindex 2022 den 116. Rang und zieht mit El Salvador und Angola gleich. «Dieser Krieg ist nur für die Armen», sagt Milana weiter. «Viele Ukrainer sammeln Geld, aber nur für ihre Mitbürger und nicht für den Präsidenten und seine reichen Gefolgsleute, die uns einfach umbringen.»

Bel-Ami auf dem diplomatischen Parkett

Mit dem Präsidenten meint sie Wolodimir Selenski. Der 46-Jährige ist seit 2019 ukrainischer Staatspräsident. Mit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 und seiner mutigen Weigerung, aus Kiew zu fliehen, wurde der ehemalige TV-Unterhalter zum Hauptfeind von Kreml-Chef Wladimir Putin (71) und zu einer Ikone der Weltpolitik.

An der innenpolitischen Front steht Selenski laut Experten derzeit unter Druck. Unablässig attackieren die russischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung. Die Nation leidet unter dem wirtschaftlichen Stillstand und einer Inflationsrate von zwölf Prozent. Im Volk wächst der Unmut über die abgehobene Hauptstadtelite. Und Selenski, dessen Sturz Putins erklärtes Kriegsziel ist, igelt sich mit seinen allertreusten Begleitern ein. Im Herbst wechselte er seinen Verteidigungsminister aus, letzten Monat entliess er einen ranghohen Geheimdienstler.

So gross der Ärger zu Hause ist, so glanzvoll wirkt der Mann im tarnfarbenen Shirt auf der Weltbühne. Amerika, Afrika, Asien, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Saudi-Arabien, Italien und jetzt die Schweiz: Selenski ist ein Bel-Ami auf dem diplomatischen Parkett, unermüdlich wirbt er um Rüstung und Geld, mit aller Kraft arbeitet er an einer internationalen Einheit gegen den Aggressor Russland. Mit US-Präsident Joe Biden (81) hat er kurz vor dem Schweiz-Besuch ein zehnjähriges Sicherheitsabkommen geschlossen.

Amherd und Cassis liessen sich hinreissen

Ein wichtiger Coup ist ihm im Januar gelungen, als er die neutrale Schweiz als Austragungsort für die Friedenskonferenz gewinnen konnte, die jetzt oberhalb des Vierwaldstättersees stattfindet. Bei Bundespräsidentin Viola Amherd (62) rannte er offene Türen ein. Die VBS-Chefin verantwortet eine personelle Pannenserie in ihrem Departement und darf sich mit dem Giga-Anlass ein Denkmal setzen. Die andere Schlüsselrolle spielt Ignazio Cassis (63). Politisch immer wieder totgesagt, kann es der Aussenminister allen vorweisen: In den Guten Diensten sind wir wer.

Doch haben die beiden Magistraten eine Chance verpasst: Sie liessen sich vom Charismatiker aus der Ukraine dazu hinreissen, einen einseitigen Gipfel zu organisieren. Es ist ein Klassentreffen der Nato-Mächte und ihrer Freunde.

Cassis, der Humanmediziner

Russland wurde auf Geheiss des Ukrainers schon gar nicht erst angefragt. Ein taktischer Fehler für die neutrale Eidgenossenschaft. Die bittere Konsequenz: Das strategisch unverzichtbare China bleibt fern, Brasilien schickt einen Beobachter. Die Regierungschefs von Indien, Saudi-Arabien und der Türkei schicken immerhin ihre Aussenminister. Peking arbeitet derweil, mit Hilfe aus Brasilien und der Golfaraber, an einer alternativen Konferenz mit russischer Beteiligung.

Dieses Versäumnis – Selenski die Entscheidung überlassen, ob man eine Einladung nach Moskau schickt – passt zum Profil von Ignazio Cassis. Der FDP-Politiker ist von Haus aus Humanmediziner. Dieses Studium dreht sich um den menschlichen Körper als Objekt unzähliger Krankheiten, Defizite und Dysfunktionalitäten. In der Medizin lernte der EDA-Chef, dass der sicherste Weg aus der Vermeidung von Risiken besteht. So handhabt er es auch in der Aussenpolitik. Wer in der Politik Risiken minimieren will, muss Beschlüsse möglichst breit abstützen. Also entscheidet das Parlament mit, ob das Palästinahilfswerk UNRWA die zehn Millionen Franken bekommt. Also wird für das EU-Verhandlungsmandat eine derart breite Konsultation gestartet, dass nur noch der Trachtenverein Oberwallis und der Töffclub Oberaargau fehlen. Also überlässt man dem Freund aus Kiew die Eckpunkte der Bürgenstock-Konferenz.

Zauberwort «Strategie-Kaskaden»

Cassis' Zauberwort, das er intern herunterbetet, heisst «Strategie-Kaskaden»: Aussenpolitik als Naturwissenschaft. Jeder Schritt muss strikt auf Anerkanntes abgestützt sein, stufenweise bis zum aussenpolitischen Bericht und letztlich zur Bundesverfassung. Führen durch das Abdelegieren von Führen, lautet das Prinzip. Im Fall der Nichteinladung Russlands ist damit eine Chance vertan worden. Zum Kriegstreiber Russland nämlich hätte die neutrale Schweiz einen Draht – im Rahmen des Schutzmachtmandats für den Konflikt mit Georgien verkehrt die Schweizer Botschafterin in Moskau regelmässig mit dem russischen Aussenministerium.

Doch sind Amherd und Cassis dem Charisma des ukrainischen Impresarios erlegen. Wie viel Rückhalt Selenski in seiner Bevölkerung geniesst, ist hingegen schwer zu sagen. Im Mai wäre seine Amtszeit abgelaufen, wegen des geltenden Kriegsrechts sind die Wahlen bislang ausgeblieben. «Ich weiss nur, was meine Familie und Freunde sehen», sagt die Geflüchtete Milana. «Es gibt in der Ukraine eigentlich keine Meinungsfreiheit mehr.»

Wenn Politiker sagen, dass in der Ostukraine westliche Werte verteidigt werden müssen, gilt das auch für die junge ukrainische Demokratie. Im Interesse Wolodimir Selenskis. Und Europas.

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