Alle fürchten sich vor ihnen: Ein Tag mit den Betreibungsbeamten
Geld für Gläubiger

Die Zahl der Menschen, die Betreibungen erhalten, steigt stetig. Wer sind die Beamten, die mit Schicksalen ­konfrontiert werden und sich oft als Überbringer schlechter Nachrichten unbeliebt machen müssen? Ein Tag im Betreibungsamt Winterthur Stadt.
Publiziert: 27.01.2016 um 14:08 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 17:50 Uhr
Die Zahl der Betreibungen steigt jährlich. Zwischen 1994 und 2014 ist die Zahl der Zahlungsbefehle um rund 60 Prozent gestiegen.
Foto: Nik Hunger
Gabi Schwegler

Erst klingelt er zögerlich. Nach dem fünften Mal lässt er die Türglocke in kürzeren Abständen schrillen. Dann legt Manuel Morato (41) das linke Ohr an die Wohnungstür und lauscht. Schliesslich klopft er drei Mal bestimmt: «Aufmachen, bitte!»

Ein kalter Januarmorgen, die Schneeflocken fallen schwer auf die nassen Strassen von Winterthur ZH. Morato ist Zustellbeamter beim Betreibungsamt der Stadt, er verteilt wie jeden Tag Zahlungsbefehle. Seit zwölf Jahren tut er das und sagt: «Ich mache einen sinnvollen Job für die Gläubiger, für die Stadt, für die Allgemeinheit. Für alle, die zu ihrem Recht kommen wollen.»

Die Tür geht auf, im Türrahmen steht ein junger Mann in Trainingsanzug und ausgelatschten Pantoffeln, die Haare vom Schlaf noch zerzaust. Morato reibt sich die Nase, es riecht nach Cannabis. Er streckt dem Mann den Zahlungsbefehl entgegen: die Krankenkasse! Sie betreibt den jungen Mann wegen einer ausstehenden Prämie von letztem Sommer, 233 Franken. «Muss ich Ihnen noch was erklären?», fragt Morato. Nein, es werde ja wohl alles auf dem Zettel stehen, antwortet der Schuldner hörbar angesäuert. Morato nimmt es gelassen: «Ich muss ihn nicht ­erziehen. Er weiss selber, was das bedeutet.» 

Draussen vor dem Haus prüft Morato in seiner Ledermappe die nächste Adresse, dann öffnet er das Schloss seines Velos. Er ist bei Wind und Wetter auf zwei Rädern unterwegs, nur wenn es wirklich eisig sei, lasse er es stehen. «Ich bin froh, dass ich so viel Velo fahre. Denn ich esse viel zu ­gerne.»

Viele verlieren den Überblick, weil sie nur bargeldlos bezahlen

An manchen Tagen macht Weibel Manuel Morato über 50 Hausbesuche. Letztes Jahr erstellten die drei städtischen Betreibungsämter in Winterthur 34 770 Zahlungsbefehle – mehr als doppelt so viele wie vor 20 Jahren. «Das veränderte Konsumverhalten ist verantwortlich für diese Zunahme», sagt Roland Isler (61), Stadtammann und Leiter des Betreibungsamts Winterthur Stadt. Seit 34 Jahren arbeitet er als Betreibungsbeamter und ist Vorstandsmitglied der Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten der Schweiz. «Das Geld ist heute einfacher ausgegeben», sagt er, «man muss nicht einmal mehr aus dem Haus, alles ist online zu haben.» Früher habe man ausgegeben, was im Portemonnaie lag. «Heute kann man selbst das Bier in der Beiz mit der Kreditkarte zahlen. Der bargeldlose Zahlungsverkehr führt dazu, dass viele den Überblick über ihre Ausgaben verlieren.» 

Was sich in Winterthur abzeichnet, gilt für die gesamte Schweiz: Die Zahl der Zahlungsbefehle wächst stetig. Zwischen 1994 und 2014 ist sie um rund 60 Prozent gestiegen.

Manuel Morato stellt seit 12 Jahren Zahlungsbefehle zu: «Ich mache einen sinnvollen Job für die Allgemeinheit.»
Foto: Nik Hunger

Morato hat sein neues Ziel erreicht, steht vor dem Eingang eines Mehrfamilienhauses. Er prüft die Namen, schiebt einen Briefkastenschlitz hoch und linst ins Innere. Im Fach stapelt sich Post. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass der Schuldner die Abholungseinladung für den Zahlungsbefehl gar nicht gesehen hat.

10 Prozent sind mit den Steuern im Rückstand

Morato kennt diesen Schuldner, er stand schon öfters im Eingang, nennt ihn einen Stammkunden. Er weiss: Der ältere Mann hat seine Wohnungsklingel ausgeschaltet, damit er ungebetene Besucher erst gar nicht hört. Eine Nachbarin kommt nach Hause, Morato stellt sich als Mitarbeiter der Stadtverwaltung Winterthur vor, bittet um Einlass. «Ich sage nie, dass ich vom Betreibungsamt bin», sagt er. «Das halte ich aus Datenschutzgründen und Respekt gegenüber den Kunden so.» Trifft er die Schuldner auch beim dritten Zustellversuch nicht an, übergibt er das Dossier der Polizei. Diese übernimmt daraufhin die Zustellung.

Anlass zu Betreibungen sind meist ausstehende Steuern und Krankenkassenprämien. «Sie bleiben am Schluss offen», so Isler. «Die Verschuldung beginnt aber andernorts, beim Onlineshopping, beim Mobiltelefon, bei teuren Freizeitaktivitäten.» Eine Erhebung des Bundesamts für Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen zeigt, dass zehn Prozent der Bevölkerung mit ihren Steuerzahlungen im Rückstand sind. Bei den Krankenkassenprämien sind es 6,4 Prozent. Bleiben Rechnungen trotz Zahlungsbefehl 20 Tage unbezahlt, kann der Gläubiger mit einem Fortsetzungsbegehren die Betreibung auf Pfändung einleiten.

Pfändungsbeamtin Alicia Lopez (30): «Wir sind keine Unmenschen, aber wir haben einen Auftrag.»
Foto: Nik Hunger

Zweiter Stock im Betreibungsamt in der Winterthurer Altstadt, Büro 5, Pfändung, A. Lopez. Neben dem Türrahmen leuchtet das Lämpchen rot, Pfändungsbeamtin Alicia Lopez (30) ist besetzt. Ihr gegenüber sitzt eine 32-jährige Frau, ihre beiden kleinen Töchter streiten um einen Kugelschreiber. «Wie geht es Ihnen?», fragt Lopez. «Nicht gut, es geht drunter und drüber», antwortet die Frau und spielt mit ihren langen, künstlichen Fingernägeln. Auf ihre Bewerbung habe sie leider eine Absage bekommen und deshalb noch immer kein Einkommen. Alicia Lopez zieht drei gefaltete Blätter aus einem Mäppchen, drei Betreibungen vom Steueramt über 6000 Franken, und erklärt die neuen Forderungen. Man hört, dass sie schon viele schwierige Gespräche geführt hat und sich durchzusetzen weiss. Sie formuliert ihre Forderungen mit einer Mischung aus Mitgefühl und Bestimmtheit. Die junge Mutter reagiert ruhig, sie kennt das Prozedere. Sie hat Verlustscheine von über 114 000 Franken. Diese mussten die Pfändungsbeamten ausstellen, weil sie weder verwertbare Vermögenswerte noch ein pfändbares Einkommen hat.

«Meine zwei Kinder sollten all das nicht erleben»

Hinter Lopez hängen Postkarten, vom Bücherregal lächelt Hello Kitty, neben einem Stapel Unterlagen steht ein Glücksbambus. «Ich möchte, dass die Kunden in mir ­einen Menschen und nicht nur eine Beamtin sehen», sagt sie. Lopez hat bereits ihre kaufmännische Lehre hier auf dem Betreibungsamt gemacht und ist nun zuständig für die Schuldner mit Nachnamen N bis S. «Wir sind keine Unmenschen, aber wir haben einen Auftrag.» Und der heisst im Kern: Geld für die Gläubiger beschaffen.

An diesem Nachmittag muss sie der Mutter neue Verlustscheine ausstellen, es ist nichts zu holen. «Für mich ist es ein schwerer Gang, weil ich weiss, dass ich keine guten Neuigkeiten habe für Frau Lopez», sagt die Mutter beim Rausgehen. «Aber ich muss es schaffen. Ich habe zwei Kinder. Sie sollten all das nicht erleben und ein schönes Leben haben.»

Immer häufiger sitzen junge Menschen in Lopez’ Büro, die sich mit übermässigem Onlineshopping verschuldet haben. «Es macht mich wütend», sagt Lopez, «dass viele im Wissen Sachen bestellen, sie nicht bezahlen zu können.» Sie selber arbeite schliesslich auch für ihr Geld und leiste sich nicht alles, was sie möchte. «Eher esse ich nur Pasta, als eine Rechnung nicht zu bezahlen. So bin ich erzogen worden.»

Es surrt im Büro 5. Die nächste Kundin wartet vor der Tür. Auch sie ist keine Unbekannte. Die allein erziehende Sozialhilfeempfängerin klaubt ein 50er-Nötli aus der Tasche ihres Faserpelzes. «Hatten wir nicht 100 Franken vereinbart?», fragt Alicia Lopez. «Doch, ich bringe den Rest noch vor Ende des Monats, versprochen.» Sie zahlt eine offene Rechnung ihres minderjährigen Sohnes ab, der für über 500 Franken Kleider bei Zalando bestellt hat. «Ich spare an allem und leiste mir nichts mehr, um einen Verlustschein auf den Namen meines Sohnes zu vermeiden», sagt die Frau.

Jede Woche wird in Winterthur eine Wohnung geräumt

Mit den Händen in den Jackentaschen lehnt die Frau an der Wand, unter den Augen hat sie dunkle Ringe. Lopez eröffnet ihr, dass zwei neue Betreibungen für sie eingetroffen sind, fast 6000 Franken. Weil die Sozialhilfe nicht pfändbar ist, stellt Lopez Verlustscheine aus. Diese kommen zu den bestehenden von über 25 000 Franken hinzu. «Arbeitet jemand nicht, ist es sehr schwierig, aus den Schulden zu kommen. Vor allem, wenn schon so viele Verlustscheine bestehen», sagt Lopez. Letztes Jahr mussten die Winterthurer Beamten 17 027 Pfändungen vollziehen. Fast dreimal so viel wie vor 20 Jahren.

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Im Schnitt einmal pro Woche wurde 2015 in Winterthur eine Wohnung zwangsgeräumt, weil die Schuldner die Miete nicht mehr bezahlen konnten. «Diese Einsätze fordern uns sozial besonders, weil wir Menschen in grosser Verzweiflung antreffen», sagt Roland Isler. Ein Betreibungsbeamter müsse deshalb nicht nur rechtlich versiert sein, sondern auch über hohe So­zialkompetenz verfügen. «Das Vertrauensverhältnis ist entscheidend für den Erfolg einer Schuldenberatung.» Und um die Philosophie von Isler umzusetzen: Schuldner und Gläubiger müssen in Würde weiterleben können.

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