Am Gymnasium gab es unter den Mädchen meiner Klasse eine stille Abmachung: Wir sprachen nicht darüber, was wir assen. Und vor allem nicht darüber, wie viel wir assen. Und so sassen wir jeweils um den Mittagstisch. Die einen hatten Reiswaffeln und eine Avocado dabei, die anderen ein Joghurt und einen Apfel – an einem guten Tag vielleicht noch ein hart gekochtes Ei. Bevorzugt tranken wir Sprudelwasser, denn das macht länger satt. Am Ende der Mahlzeit tippten wir das Gegessene heimlich unter dem Tisch in unsere Kalorienzähler-App ein. Wir wussten, dass das, was wir da eintrugen, nicht genug war. Davon liessen wir uns aber nicht beirren. Wir hatten schliesslich ein Ziel vor Augen: dünn sein.
Das war in den 2010er-Jahren. Auf Instagram bewarben Influencer zweifelhafte Abnehmtees – später würde herauskommen, dass sie Abführmittel enthielten –, sie ernährten sich ausschliesslich von Früchten und rohem Gemüse oder verkauften Fitnessprogramme mit dem Namen «Bikini Body Guide». Auf der Plattform Tumblr wurden massenhaft Bilder von knochigen Armen, Rippen und hervorstehenden Schlüsselbeinen geteilt. Kein Wunder: Schliesslich waren wir in einer Zeit aufgewachsen, in der Size Zero als Ideal galt. In der Britney Spears, kurz nachdem sie ein Kind geboren und auch nur den kleinsten Ansatz eines Bauchs hatte, von den Medien als dick bezeichnet wurde. In der das Buch «Skinny Bitch» zum weltweiten Bestseller wurde. Von Kindheit an ist uns vermittelt worden: Dein Körper ist nicht gut genug. Du hast keinen «Bikini Body». Du musst dünn sein. Dünner geht immer. Essstörungen wurden geradezu glorifiziert.
Problematische Inhalte in den sozialen Medien
Inhalte, die essgestörtes Verhalten propagieren, haben gerade wieder Hochkonjunktur. Tiktok und Instagram sind voll von Videos, die problematische Abnehmtipps beinhalten und das Dünnsein glorifizieren. Da ist zum Beispiel diese eine Influencerin: «Oink, oink, you little pig» (zu Deutsch: «Grunz, grunz, du kleines Schwein»), sagt sie in ihre Handykamera, während sie eine Strasse entlanggeht. Die junge Frau hat rund 380’000 Follower. In unzähligen Videos filmt sie sich beim Spazierengehen oder beim Essen und sagt Dinge wie: «Es ist Skinny-Bitch-Summer. Wisst ihr, wie grossartig es sich anfühlt, dass meine Beine nicht mehr bei jedem Schritt zusammenklatschen?» Ihre Videos haben Hunderttausende Aufrufe und mehrere Zehntausend Likes. In den Kommentaren erhält sie Zuspruch. Sie sei «motivierend», ein «gutes Vorbild».
Oder dann ist da eine Tiktok-Influencerin mit rund 650’000 Followern. Sie hat lange, blonde Haare, ist gross und sehr schlank. Unter den Hashtags #skinny, #skinnygirls oder #weightloss teilt sie Tipps, die dabei helfen sollen, weniger zu essen und dünn zu bleiben. Ihre Videos tragen Titel wie «Was ich pro Tag esse, um dünn zu bleiben» – und das ist nicht gerade viel. Oftmals sagt sie Sätze wie: «Ich hatte nur einen Bissen davon», oder «dieses Getränk hält mich richtig lange satt». Auch ihr danken die meisten Leute in den Kommentaren für die «guten Tipps». Kritik gibt es kaum.
Was machen solche Inhalte mit uns? Diese Frage haben sich australische Forschende gestellt. Anfang August veröffentlichten sie eine Studie dazu, an der junge Frauen teilnahmen, die keine Essstörung haben. Das Ergebnis ist erschreckend: Die Forschenden fanden heraus, dass Tiktok-Videos, die Essstörungen fördern, die Körperwahrnehmung in weniger als zehn Minuten negativ beeinflussen können.
Essstörungen nehmen zu
Dass die sozialen Medien Einfluss auf unser Essverhalten haben, insbesondere auf dasjenige von jungen Frauen, bestätigt auch Neno Koller, Oberpsychologe am Therapiezentrum für Essstörungen der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD). «Untersuchungen zeigen, dass der Konsum von Inhalten, die sich auf Aussehen und die Idealisierung von Körperbildern konzentrieren, das Risiko für Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, geringes Selbstwertgefühl und Essstörungen erhöht», sagt der Psychologe.
Dies wirke sich auch auf die Therapieplatznachfrage aus. «In den letzten Jahren hatten wir konstant hohe Anmeldungen in unserer Ambulanz des Berner Zentrums für Essstörungen. Auch unser stationäres Therapiezentrum ist immer voll belegt, und Betroffene müssen mehrere Wochen bis Monate auf einen Therapieplatz warten», sagt Koller. Seit Corona seien die Fallzahlen rapide angestiegen. Auch bei der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen heisst es auf Anfrage, dass die Anzahl der Beratungen seit der Pandemie gestiegen ist. Und eine aktuelle Studie aus Deutschland zeigt: Die Essstörungen bei Mädchen und jungen Frauen haben in den vergangenen zehn Jahren um 54 Prozent zugenommen.
Brauchst du selbst Hilfe oder kennst du Betroffene? Auf der Website pepinfo.ch finden sich Anlaufstellen für Essstörungen in verschiedenen Kantonen. Auch die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES) bietet unter aes.ch Beratungen für Menschen mit Essstörungen und Essproblemen. Kinder und Jugendliche können sich bei der 24-Stunden-Hotline 147 von Pro Juventute melden, auch via Whatsapp oder E-Mail oder unter 147.ch. Bei der Dargebotenen Hand bekommt man anonyme Beratung per Telefon unter 143, Mail oder Chat oder unter 143.ch. Bei selbsthilfeschweiz.ch gibt es Selbsthilfegruppen für Menschen in der gleichen Lebenssituation. Die Angebote sind vertraulich und kostenlos.
Brauchst du selbst Hilfe oder kennst du Betroffene? Auf der Website pepinfo.ch finden sich Anlaufstellen für Essstörungen in verschiedenen Kantonen. Auch die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES) bietet unter aes.ch Beratungen für Menschen mit Essstörungen und Essproblemen. Kinder und Jugendliche können sich bei der 24-Stunden-Hotline 147 von Pro Juventute melden, auch via Whatsapp oder E-Mail oder unter 147.ch. Bei der Dargebotenen Hand bekommt man anonyme Beratung per Telefon unter 143, Mail oder Chat oder unter 143.ch. Bei selbsthilfeschweiz.ch gibt es Selbsthilfegruppen für Menschen in der gleichen Lebenssituation. Die Angebote sind vertraulich und kostenlos.
Dabei hat die Body-Positivity-Bewegung in den letzten Jahren Aufschwung bekommen. Diversität in Körperformen und Hautfarben wurde zelebriert. Bilder von Cellulite, Bauchfett oder Schwangerschaftsstreifen wurden vermehrt in den sozialen Medien gepostet und in Werbungen gezeigt. Aber: Trotz Body Positivity war das Schönheitsideal des dünnen Körpers nie wirklich weg, meint die österreichische Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner (34). Sie hat an der Universität Wien zu Body Positivity promoviert und ein Buch über das Körperbild geschrieben.
Zwar seien diverse Körper in den letzten Jahren sichtbarer geworden. «Aber auch diese wichen nur minimal von der Normschönheit ab.» Lechner nennt das Beispiel von Plus-Size-Models, die zwar nicht übertrieben dünn seien, aber dennoch eine perfekte Sanduhrfigur hätten. «Wir haben ein bisschen mehr Diversität gesehen, aber nur so viel, wie kommerziell verträglich war.»
Ozempic und 2000er-Mode
Aber weshalb ist das Schönheitsideal der schlanken Frau gerade jetzt wieder so präsent? Die Kulturwissenschaftlerin nennt zum einen den riesigen Erfolg der diversen Abnehmspritzen, die beinahe schon zum Lifestyleprodukt geworden seien. Hinzu komme die Rückkehr der Mode aus den 2000er-Jahren. Also beispielsweise die bauchfreien Tops und tief sitzenden Jeans. «Deren Aushängeschilder haben einen flachen, durchtrainierten Bauch und sind fit und schlank.»
Es habe auch positive Errungenschaften der Body-Positivity-Bewegung gegeben, sagt Lechner. Zum Beispiel, dass Modelabels heute im Vergleich zu früher auch grössere Grössen anbieten würden. Oder dass Sängerin Lizzo, eine schwarze, dicke Frau, 2020 auf dem «Vogue»-Cover zu sehen war. Nun schwinge das Pendel aber wieder zurück.
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Die Bewegung sei zu oberflächlich geblieben. «Diskriminierung aufgrund des Äusseren und insbesondere Dickenfeindlichkeit sind immer noch wahnsinnig präsent in unserer Gesellschaft.» Lechner glaubt, dass die Body-Positivity-Bewegung wichtige Fragen stellen muss. Etwa weshalb nicht alle Körper in der Gesellschaft gleich viel wert seien. Welche Körper als schön gelten und weshalb. «Wir müssen das Problem an der Wurzel packen und erkennen, dass Körper nur wertgeschätzt werden, solange sie Leistung erbringen und einer weissen, dünnen, jungen Norm entsprechen.» Nur dann würde sich das Schönheitsideal ändern.
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