Tiktok, das klingt mehr nach getakteter Zeit als nach Mussestunden mit einem Buch. Das Social-Media-Portal mit seinen Videoschnipseln scheint das pure Gegenteil zu sein von geruhsamer und ausgiebiger Strandlektüre. Und trotzdem haben sich das hippe Internetphänomen und das klassisch gedruckte Buch gefunden: Booktok heisst die Community innerhalb von Tiktok, die aktuell für Aufsehen sorgt.
Die «New York Times» berichtete Anfang Juli über den Erfolg. In den USA ist Booktok bereits ein Wirtschaftsfaktor: Die amerikanische Bestsellerautorin Colleen Hoover (43), die wohl mächtigste Autorin auf Booktok, hat unter diesem Hashtag 4,2 Milliarden Aufrufe erreicht. Gesamthaft bringt es Booktok – Stand letzte Woche – auf 156 Milliarden Aufrufe weltweit. Es sind grossmehrheitlich englischsprachige Titel, die diese Zahl ausmachen.
«Im Vergleich zur englischsprachigen Booktok-Welt ist die deutschsprachige Community noch klein, sie wächst aber stetig», sagt Demian Sant’Unione, Teamleiter Online- und Lesermarketing beim Berliner Suhrkamp-Verlag, der auf Booktok aktiv ist. Im Vergleich zu anderen, inzwischen etablierten Social-Media-Kanälen erreiche Tiktok eine wesentlich jüngere Zielgruppe – «jene, von der viele meinen, sie würde sich für Bücher gar nicht mehr interessieren».
Ist der «Spice»-Level hoch, hats viele Sexszenen
Dank Booktok ist das Interesse aber gestiegen: So zeigt eine aktuelle Studie im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und des Buchgrosshändlers Libri, dass 16- bis 19-jährige Deutsche wieder mehr Bücher kaufen. Waren es 2017 durchschnittlich 7,5 Titel, sind es nun 12. Und jeden vierten Euro, den sie für ein Buch ausgeben, investieren sie aufgrund einer Empfehlung aus sozialen Netzwerken, wie die Untersuchung weiter zeigt.
Booktok tönt ein wenig wie Booktalk – ein Gespräch unter Freundinnen über ein Buch. Und genau so funktionieren die Booktok-Clips: Mit dem Handy filmen sich die Macherinnen – Booktokerinnen genannt, in der Mehrheit sind es junge Frauen – vor einem Bücherstapel, halten ein Exemplar in die Kamera, beschreiben und bewerten den Inhalt. Es geht dabei meist um Gefühle und Stimmungen, die diese Bücher auslösen, kaum je um ein Fachsimpeln mit literarischen Begriffen.
Booktokerinnen und Booktoker bedienen sich einer eigenen Sprache: «Spice» zum Beispiel bezieht sich auf den sexuellen Gehalt eines Buchs. Hat es viele Sexszenen, dann rangiert es auf einem höheren «Spice»-Level. «Tropes» beschreiben die Art der Handlung. Folgt ein Buch dem «Enemies to Lovers Trope», dann bedeutet das, dass sich am Schluss zwei verfeindete Figuren ineinander verlieben.
Dieses Schema bedient der im Juni erschienene Fantasyroman «Fourth Wing – Flammengeküsst» (dtv) der US-Autorin Rebecca Yarros (45) – aktuell in den Top 20 der Schweizer Büchercharts, in Deutschland gar auf Platz 3 der «Spiegel»-Bestsellerliste. Die Handlung: Violet Sorrengail will Schriftgelehrte werden, doch ihre Mutter drängt sie dazu, eine Ausbildung zur Drachenreiterin zu machen. Dort trifft Violet auf den mysteriösen Xaden Riorson, der sie am liebsten tot sehen will. Doch es kommt anders.
Schweizer Verlag setzt auf bekannten Influencer
Romantasy nennt sich dieses Genre – eine Verschmelzung von Romance (Romanze) und Fantasy –, das auf Booktok besonders beliebt ist. Diese Mischung bevorzugt auch Noëmi Santos (21), Schweizer Booktokerin aus Olten SO. «Extrem viel gelesen habe ich früher nicht, das kam erst vor zwei Jahren», sagt sie. Damals machte sie ihren ersten Booktok-Clip über ein Buch der US-amerikanischen Autorin Sarah J. Maas (37, «A Court of Thorns and Roses»).
Noemisbooktok heisst ihr Kanal, auf dem Santos momentan 16’000 Follower und 1,7 Millionen Views zählt. Sie nutzt ihn nicht bloss als Einwegkommunikation, sondern pflegt mit ihren Followern einen Austausch – ein richtiger Booktalk eben: «Ich kann den Leuten folgen, die meinen Buchgeschmack teilen», sagt sie. «Wenn mir diese Personen ein Buch vorschlagen, weiss ich, dass es mir auch gefallen wird.»
An diesem Austausch unter jungen Menschen finden auch immer mehr Schweizer Verlage Gefallen, wie eine kleine Umfrage zeigt. «Wir befinden uns bereits im Gespräch mit einem der bekanntesten Booktoker für unser Herbstprogramm 2023», sagt Seraina Füllemann, Co-Leiterin Marketing und Kommunikation bei Kein & Aber. Es handelt sich um Josia Jourdan (20) aus Muttenz BL mit 19’200 Followern. Eigenen Tiktok-Inhalt will Kein & Aber vorerst keinen erstellen.
Den umgekehrten Weg geht Lectorbooks. «Ein eigenes Konto werden wir auf jeden Fall erstellen», sagt Verleger André Gstettenhofer, «und von Fall zu Fall mit Influencern arbeiten.» Der temporeiche Science-Fiction-Roman «empfindungsfaehig» von Reda El Arbi (53) biete sich perfekt für den Start Ende August an. «Und mit Anna Sterns neuem Buch ‹blau der wind, schwarz die nacht.› werden wir ausprobieren, wie sich Booktok mit ernster, anspruchsvoller Literatur verträgt», so Gstettenhofer.
«Ob ein Video viral geht, ist kaum kalkulierbar»
Bereits Erfahrungen gesammelt hat der grösste Schweizer Buchverlag Diogenes. «Seit etwas mehr als einem Jahr sind wir auf Booktok vertreten», sagt Stephanie Uhlig von der Presseabteilung. «2023 haben wir unsere Aktivitäten auf der Videoplattform verstärkt.» Das stösst auf Gegenliebe: Das Diogenes-Buch «Das Gesetz der Natur» der niederländischen Autorin Solomonica de Winter (26) bringt es auf 73’000 Views und hat auch die Unterstützung von Booktoker Jourdan.
Demian Sant’Unione vom Suhrkamp-Verlag kennt auch die Schattenseiten von Booktok. «Das grösste Risiko ist der Algorithmus», sagt er. «Ob ein Video am Ende erfolgreich wird, gar viral geht oder es nur wenige Hundert Male ausgespielt wird, ist kaum kalkulierbar.» Das bestätigt Booktokerin Santos: Der Algorithmus merke sich, wer einen Krimi like, und spüle dann andere Krimis in die Vorschau, sodass man im gleichen Becken schwimme. «Stöbern und Entdecken fällt so immer mehr weg», sagt Santos.
Aus solchen und ähnlichen Gründen warten andere Schweizer Verlage noch ab. «Wir beobachten das Thema sehr genau», sagt AT-Verlagsleiter Urs Hofmann. Der auf Kochbücher spezialisierte Verlag konzentriere sich vorderhand auf Facebook und Instagram. Und Wendelin Hess, Mitbegründer vom Echtzeit-Verlag, sagt: «Zudem ist ein Early Move bei solchen Phänomenen zweitrangig.» Besser sei es, zu einem späteren und richtigen Zeitpunkt präzise zu reagieren.