Es ist 10.10 Uhr. Die grosse Pause ist vorbei. Die ersten Kinder trudeln im Klassenzimmer ein. Innert kurzer Zeit sind alle Viertklässlerinnen und Viertklässler zurück von der grossen Pause, trotz des schönen Pulverschnees draussen. 19 Kinder – 8 Mädchen und 11 Jungen. Tessa erwartet die Kinder schwanzwedelnd. Sie freut sich sichtlich über die vielen «Hallos» und Streicheleinheiten der Schülerinnen und Schüler. Auch ihr Kollege, der Havaneser Little Joe, kommt nicht zu kurz. Beide Hunde werden mit Liebe überschüttet. Die Kinder gehen vorsichtig und ruhig mit den Hunden um. Tanja Hauptlorenz (43), Klassenlehrerin und Frauchen von Tessa, sagt: «Seitdem ich die Hunde in dieser Klasse im Einsatz habe, hat sich das soziale Verhalten der Schülerinnen und Schüler massiv gebessert.» Vorher sei die Klasse sehr verhaltensauffällig gewesen. Mobbing und Schlägereien gehörten zum Schulalltag der Neun- und Zehnjährigen.
Beim Verein Schulhunde Schweiz sind laut Präsidentin Sibylle Strässle derzeit 64 aktive Schulbegleithunde-Teams registriert, doch es dürfte noch mehr Klassen mit Hunden geben. Das lohnt sich. Hunde haben erwiesenermassen eine ausgleichende und motivierende Wirkung auf Kinder. Doch bis es so weit ist, müssen die Vierbeiner mit ihren Zweibeinern eine intensive Ausbildung durchlaufen. So war es auch bei Tessa und Tanja Hauptlorenz. Dass der Dackelmix einmal Schulbegleithund wird, war nicht immer klar.
Ehemaliger Strassenhund im Klassenzimmer
Vom schwierigen Start ins Leben merkt man der neunjährigen Tessa heute nichts mehr an. Sie wirkt entspannt und glücklich. Das sei nicht immer so gewesen, erklärt Hauptlorenz. «Tessa ist ein Strassenhund aus Rumänien», sagt ihr Frauchen. Der Dackelmix muss allerlei erlebt haben, bevor die Primarlehrerin sie mit vier Jahren zu sich holte. «Sie war sehr ängstlich, fürchtete alles und jeden.» Schnell bemerkte Hauptlorenz, dass Tessa besonders ist. «Sie ist von ihrem Wesen und von ihrer Art viel ruhiger, viel entspannter als Little Joe.» In der Gegenwart von Kindern blühte Tessa richtig auf. Deshalb beschloss die Primarlehrerin Anfang 2020, mit Tessa die Schulbegleithund-Ausbildung zu absolvieren. Seither bildet die Hündin mit Hauptlorenz das Lehrerinnenteam.
Der Gong erklingt. Langsam beruhigt sich das Geläuf im Klassenzimmer. Die Schülerinnen und Schüler haben an ihren Pulten Platz genommen. Die Hunde haben es sich ebenfalls gemütlich gemacht in ihren Körbchen beim Lehrerinnenpult. 10.15 Uhr, der Unterricht startet. Heute steht NMG (Natur Mensch Gesellschaft) auf dem Stundenplan. Thema Hund. Die Kinder erfahren mehr über die Ernährung von Hunden.
Läckerli oder Barf
Es raschelt. Lehrerin Hauptlorenz holt verschiedene Lebensmittel aus ihrem Beutel. Die Kinder gucken gespannt. Es wird geflüstert: «Das het d Tessa sicher gärn», «Ich glaube, das isst de Little Joe ned gärn.» Die Vierbeiner haben nicht nur eine gute Schnauze, auch ihre Ohren funktionieren blendend: Neugierig kommen sie hinter dem Pult hervor. «Was essen Hunde lieber: Rüebli oder Banane?», fragt die Lehrerin. Die Finger schiessen in die Höhe. Die Klasse ist sich uneinig. Zwei Kinder bekommen ein Stück Banane in die Hand, zwei Rüebli. Hauptlorenz instruiert ihre Schülerinnen und Schüler, gleichzeitig die Hand mit dem Rüebli oder der Banane auszustrecken. Vorsichtig nähern sich die Vierbeiner den ausgestreckten Handflächen. Auch die Hunde sind sich uneinig. Tessa frisst das Rüebli, Little Joe vergnügt sich mit der Banane. Die Klasse ist amüsiert. Alle haben recht.
Nächste Runde. Läckerli oder Barf (steht für biologisches, artgerechtes, rohes Futter)? Wieder wird geflüstert: «Sie liebed Läckerli», «Ja, aber so Fleisch händ sie au sehr gärn, im Fall.» Der ausgeprägte Geruchssinn sorgt dafür, dass die Hunde schon wissen, dass es eine doppelte Portion Feines gibt. Im Nu sind die Kinderhände sauber geschleckt. Es kitzelt. Gelächter bricht aus. Während die Kinder ihre Hände waschen, gehen alle wieder zurück an ihre Plätze. Little Joe und Tessa fühlen sich wohl und legen sich in der Mitte des Schulzimmers hin.
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Lehrerin auf vier Pfoten
«Ich nehme sie jeweils nur dienstags und am Freitagmorgen mit in die Schule», erläutert Tanja Hauptlorenz. Hunde sind gesellige Tiere, aber auch sie brauchen regelmässig Ruhephasen. Schulbegleithunde sind nicht nur da, um gestreichelt und geschätzelt zu werden. Sie unterstützen die Kinder, Fachliches zu lernen, wie in NMG oder in der Mathematik. Noch viel wichtiger sind aber die vielen überfachlichen Fähigkeiten, die die Kinder im Umgang mit Tessa und Little Joe lernen. Diese umfassen den respektvollen Umgang mit Mitmenschen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, die Bedürfnisse des Gegenübers zu erkennen und dementsprechend zu reagieren. Seit sich Hauptlorenz die tierische Unterstützung ins Klassenzimmer geholt hat, erkennt sie bei vielen Kindern eine positive Entwicklung dieser Kompetenzen: «Beim Streicheln und Beobachten der Hunde treffen sich Kinder und kommen ins Gespräch, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben.» Auch seien die Kinder viel verantwortungsbewusster, «sie achten darauf, dass nichts auf dem Boden herumliegt, das die Hunde fressen könnten».
Keine Ablenkung im Mathiunterricht
Auf die NMG–Stunde folgt nun Mathematik. Die Lehrerin erzählt den Kindern vom Alltag ihrer Hunde. Die Kinder staunen, dass so ein Hundetag bereits um 6.30 Uhr anfängt. Abwechslungsweise zeichnet eine Schülerin oder ein Schüler die Uhrzeit jeweils auf der grossen Uhr an der Tafel ein. Das Geläuf lässt die beiden Hunde kalt. Auch die Kinder können gut auf Streicheleinheiten beim Gang zur Tafel verzichten.
Dass Tessa in solchen Lernphasen die Kinder nicht ablenkt oder zum Spielen animiert, liegt an ihrer Ausbildung. Barbara Rufer ist gelernte Lehrerin und hat 2008 nach einer Ausbildung zur Fachfrau für tiergestützte Therapie und Pädagogik ihre eigene Schulbegleithund-Schule «Tierisch gut lernen» eröffnet. «Das oberste Gebot bei der Ausbildung und beim Einsatz von Schulbegleithunden ist, dass die Hunde nicht überfordert oder instrumentalisiert werden», sagt die Fachfrau im Gespräch über Schulbegleithunde. Deshalb sollen die Hunde auch als Lebewesen der Klasse vorgestellt werden und nicht als lebende Plüschtiere.
Bis es so weit ist, absolvieren die Vierbeiner mit ihren Zweibeinern eine intensive Ausbildung. «Die Hundehalterin übt in der Ausbildung, ihren Hund besser zu verstehen und seine Bedürfnisse zu lesen», erläutert Rufer. Gleichzeitig lernt der Hund, seinem Frauchen blind zu vertrauen. Diese Ausbildung bedeutet Teamwork. Während insgesamt zwölf Seminaren lernen Mensch und Tier übereinander und miteinander. Eine fundierte Ausbildung kostet ungefähr 2700 Franken. Manche Schulen beteiligen sich an den Kosten. Nichtsdestotrotz verzeichnet Rufer seit einigen Jahren eine grosse Nachfrage: «Die positive Wirkung von Hunden auf Menschen ist unbestreitbar. Der Einsatz von Schulbegleithunden lohnt sich für alle.» Der Lohn ist eine angenehme Lehr- und Lernatmosphäre für alle. Zusätzlich Geld für Hund oder Frauchen gibt es dafür aber nicht.
Ungenutzte Ressource
In einer Studie von 2014 untersuchte Karin Hediger (39), Professorin für Klinische Psychologie und tiergestützte Intervention an der Universität Basel, gemeinsam mit Dennis C. Turner die Wirkung von Hunden auf Kinder und Jugendliche. Die Erkenntnisse klingen vielversprechend und bestätigen die Erfahrung vieler Lehrpersonen und Kinder. So wurde nachgewiesen, dass der Einsatz von Tieren im schulischen Kontext einen positiven Effekt auf Kinder mit aggressivem, hyperaktivem und sozial gestörtem Verhalten hat. Das führt zur Verbesserung der Lernmotivation, der Konzentration, der Kooperation mit der Lehrperson, und die Kinder lernen, das eigene Verhalten besser zu regulieren. Erhöhte Lernmotivation heisst ausserdem, dass die Neugier und die Aufmerksamkeit der Lernenden positiv beeinflusst werden.
Das bestätigen auch die Kinder der 4b im Schulhaus Breite in Reinach. So sind sich der neunjährige Imran und die zehnjährige Kiara einig, dass es um einiges leiser ist in der Klasse, wenn die Hunde da sind. Wie kommt das? «Die Hunde sind gestresst, wenn es zu laut wird, und dann kommen sie nicht mehr gern zu uns», erklärt Kiara. Samuel (10) sagt, wie es ist: «Wir sind für Little Joe und Tessa leise.» Die entspanntere Atmosphäre, wenn die Hunde im Klassenzimmer sind, bemerkt auch der neunjährige Aren, er könne sich viel besser konzentrieren. Victoria (9) erzählt, dass sie wegen der Hunde viel lieber in die Schule komme, «weil sie sehr süss sind». Der Jöö-Faktor der Vierbeiner macht Elina (9) und Shonjela (9) manchmal etwas zu schaffen, dann seien sie ein bisschen abgelenkt, weil sie sie streicheln möchten.