Wir schlafen komfortabler als Kaiser: Betten aus Möbelhäusern sind heute breiter und länger als die Nachtlager des Franzosen Napoleon (1769–1821) auf Elba (I) oder des Österreichers Franz Joseph I. (1830–1916) im Schloss Schönbrunn (A). Wer sich in die schmalen und kurzen Holzliegen legen würde, käme sich vor wie ein übernachtender Wanderer bei Prokrustes aus der griechischen Mythologie, der dem Gast jeweils die überlangen Glieder abhackte.
Gewiss, Menschen sind heute grösser gewachsen als im 18. oder 19. Jahrhundert. Noch vor hundert Jahren mass der durchschnittliche Schweizer Mann bloss 164 Zentimeter, heute sind es 178 Zentimeter. Klar hat das Auswirkungen auf das Lebensumfeld: Wohnungsdecken sind heute weiter oben als etwa in alten Appenzeller Bauernhäusern, Möbel in den Zimmern grösser – so ist die Standardlänge eines Betts gegenwärtig bei zwei Metern.
Sechs Prozent grössere Menschen brauchen 70 Prozent mehr Raum
Stühle und Sessel, deren Sitzhöhe im 16. und 17. Jahrhundert 37 bis 40 Zentimeter betrug, sind heute standardmässig zwischen 45 und 50 Zentimetern. Das Schweizer Unternehmen Vitra musste selbst Designklassiker aus dem 20. Jahrhundert anpassen: So hat der Eames Lounge Chair (1956) eine grössere Sitzfläche, längere Armlehnen und einen höheren Rücken als bei der Premiere. Und der Eames Side Chair (1948) für den Tisch ist zwei Zentimeter gewachsen.
Lange Leute in hohen Häusern mit massigen Möbeln: Es ist offensichtlich, dass der Platzbedarf steigt und die aktuell viel diskutierte Wohnungsnot zusätzlich befeuert. Doch während der Durchschnittseidgenosse in den vergangenen 50 Jahren um rund sechs Prozent gewachsen ist (und mit ihm wie beschrieben die Möbel), hat sein Raumanspruch in derselben Zeit um satte siebzig Prozent zugenommen (von 27 auf 46 Quadratmeter). Wozu nutzt er die Fläche?
Früher gehörte ein massgefertigtes Nussbaumholzbuffet für das Sonntagsgeschirr in die gute Stube. Zur Wohnungseinrichtung gesellte sich des Weiteren eine schwere Stereoanlage aus mehreren Komponenten samt riesigem Boxenpaar und eine assortierte Sammlung mit grossformatigen Langspielplatten, die hellhörig machen sollten. Und natürlich eine umfangreiche Bibliothek, mit der man Gästen die Belesenheit vor Augen führen wollte.
Tempi passati: Grossmutters sperriges Buffet will keiner mehr, Musiksammlungen sind mittlerweile digital abgespeichert und ertönen via Smartphone aus kleinen Boxen, die mit einem Subwoofer den ganzen Raum voluminös erfüllen. Auch Lesestoff zieht sich der Zeitgenosse gerne über E-Books oder gleich vorgelesen als Podcasts rein. Da braucht es keine verstaubten und in der Sonne verbleichende Buchrücken zum Entzücken.
Sitzgruppen heissen heute Wohnlandschaften
Dieser Wandel durch Digitalisierung ist schon vor Jahren beim Möbelhandel angekommen: Das 1978 vom schwedischen Designer Gillis Lundgren (1929–2016) konzipierte Billy-Bücherregal lancierte Ikea 2011 in einer neuen, zwölf Zentimeter tieferen Version: Das Gestell, das weltweit 80 Millionen Mal über die Verkaufstheke ging, sollte neu Platz zum Ausstellen von Designgegenständen wie Tellern oder Vasen bieten.
Das klingt alles in allem nach einem kleineren Hausrat. Der heutige Mensch ist also nach dem Vorbild japanischer Wohnkultur bereit für Tiny Houses, kleine kompakte Wohnhäuser. Die 9-Millionen-Schweiz kann kommen! Doch weit gefehlt: Statt die Wohnungsnot abzublasen, blasen sich Schweizerinnen und Schweizer auf und machen sich wie aufgeplusterte Hennen breit in ihrem Stall.
Angesichts des kleinen Hausrats und der grossen Wohnfläche ergreift sie ein Horror vacui, eine Angst vor der Leere. Sie gehen für Möbel zum Branchenriesen aus Schweden oder zu jenem mit dem XXL im Namen und decken sich mit Einrichtungsgegenständen in Übergrösse ein: begehbare Schrankwände, gigantische Tische und Sitzgruppen, die Wohnlandschaften heissen, weil es für sie beinahe einen Kompass braucht, damit man sich nicht verirrt.
«Sitzt du noch oder liegst du schon?», liesse sich hier ein bekannter Werbespruch von Ikea anpassen. Doch fürs Liegen ist eigentlich die Schwimmbecken füllende Boxspringmatratze im Schlafzimmer. Und umwerfend ist der leintuchgrosse TV-Bildschirm – der erleuchtet nun eine ganz Wand in bunten Farben für eine einzelne Person davor, während Ende der 1950er-Jahre eine komplette Familie dicht gedrängt zusammen in eine kleine Schwarz-Weiss-Röhre guckte.
Modische Wegwerfmöbel statt wertige Einmalanschaffung
Von der Puppenstube der Biedermeierzeit in die Wohnlandschaft der Gegenwart: Ähnlich wie SUVs auf Strassen ist mit XXL-Möbeln in Wohnungen der Gigantismus ausgebrochen. Und plötzlich klagen alle über Platzmangel. Es ist ein bisschen wie bei «Alice in Wonderland» (1865), wo die Titelheldin ins Haus des weissen Kaninchens geht und dort so gross wird, dass sie ein ganzes Zimmer ausfüllt und ausruft: «Was soll bloss aus mir werden?»
Auf grossem Fuss zu leben, hat nicht bloss beim Auto seinen Preis, auch für Wohnbedarf fällt das ins Gewicht. So ist der Posten «Hausrat und Haushaltsführung» beim Landesindex der Konsumentenpreise im Februar 2023 innert Jahresfrist um 4,5 Prozent gestiegen. Haupttreiber sind dabei die höheren Kosten für Möbel. Ein Grund ist, dass heute nur noch knapp jeder zehnte Stuhl, Tisch oder Schrank aus einheimischer Produktion stammt.
Das war zu Grossmutters Zeiten anders: Die ging vor der Hochzeit zum Dorfschreiner, liess sich für einen Monatslohn oder mehr ein massives Buffet aus Edelhölzern erstellen und brachte das als Mitgift in die Ehe ein. Wie der Bund fürs Leben sollte das Möbel ewig halten: eine zwar teure, aber einmalige Anschaffung – eine modische Neueinrichtung im Laufe der Jahre war nicht vorgesehen.
Heute wechselt man Möbel wie Kleider nach den halbjährlichen Modenschauen in den Weltmetropolen. Gefällt einem der Stoff eines Sofas nicht mehr, kommt es eher in den Sperrmüll als zum Polsterer (den es eh kaum noch gibt). Zu den Möbeltrends 2023 gehören übrigens auch Vintage-Gegenstände. Vielleicht taugt das alte Buffet der Grossmutter also doch noch als Einrichtungsgegenstand – aber natürlich nur für eine Modesaison.
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