Als blinden Flecken im Leben. So empfand die Journalistin Nadia Fernández (60) das Schweigen rund um das Thema Sexualität. «Man kann heute Nachbarn erzählen, dass man sich im Spital einem intimen Eingriff unterziehen musste. Aber man kann immer noch nicht von seinem Sex erzählen. Das ist doch seltsam», sagt Fernández, die auch als psychologische Beraterin tätig ist. Als sie Monica Bürki (50) kennenlernte, begannen die beiden über Sexualität – und sehr rasch über ein gemeinsames Buchprojekt – zu sprechen.
Diesen Monat ist ihr Buch erschienen, publiziert im kleinen Schweizer Arisverlag. Es sorgt für Aufsehen, war bereits zwei Wochen in der Bestsellerliste: In «Mein Sex» erzählen 17 Frauen, darunter die beiden Autorinnen, anonymisiert ihre ganz persönliche sexuelle Geschichte.
Späte sexuelle Erfüllung
Zum Beispiel Anna (76). Heute geschieden und alleinlebend, erlebte die zweifache Mutter eine sexuell unerfüllte Ehe; ihr Mann hatte immer wieder Affären, wollte ihr aber nicht dasselbe Recht zugestehen. Doch auch sie nahm sich Liebhaber:
Tom war es, der gemerkt hat, dass ich gar keinen Orgasmus hatte, und mir einen Vibrator geschenkt hat. Ich habe ihn mit seiner Hilfe ausprobiert. Oh mein Gott! Ich dachte, ich erleide einen Herzinfarkt – es war so intensiv. Unglaublich! Damit hat sich mir eine völlig neue Dimension eröffnet.
Die Offenheit und Ehrlichkeit ihrer Gesprächspartnerinnen hätten sie überrascht und berührt, berichten die beiden Buchautorinnen. Auffällig ist, dass die meisten Gesprächspartnerinnen – alle irgendwo ab 40 – erst nach Jahren sexuelle Erfüllung fanden und zu ihren Bedürfnissen stehen konnten. «Sex findet zwar im Privaten statt, ist aber eingebettet in eine Gesellschaft und einen politischen Kontext. Das wirkt sehr stark», sagt Nadia Fernández.
Das Elternhaus prägt
Davon zeugen auch die Geschichten mehrerer Frauen, die kaum aufgeklärt waren (kann man schwanger werden, wenn man neben einem Jungen auf einer Parkbank sitzt, oder muss man dazu liegen?), oder die aus dem Elternhaus eine tabuisierende Haltung zu Sexualität mitbekamen.
Wie Lilly (47), die als Mädchen im Lager mit ihren Freundinnen ins Bubenzimmer ging, was aufflog. Vor Lachen hatte sie in die Pyjamahose gepinkelt. Als die Mutter das Kleidungsstück zu Hause fand, schrie sie die Tochter an, vermutete, sie habe Sex gehabt. Die Zwölfjährige war darüber schockiert und verletzt:
Die Reaktion meiner Mutter bewirkte in mir eine Art Gegenreaktion. Ich zeigte es nicht offen, doch in mir rief alles: «Mein Körper gehört nur mir. Ich kann damit tun und lassen, was immer ich will.» Ich wollte schon früh Sex haben, um eine «Frau» zu werden und hatte mein erstes Erlebnis mit 14, in einem Keller.
Die Frauen seien dankbar gewesen, dass sie über ihr sexuelles Erwachen und ihre Erfahrungen erzählen durften, sagt Monica Bürki. Seit das Buch draussen ist, finden sie sich immer wieder in Gesprächen über Sex wieder – mit Freundinnen ebenso wie mit flüchtigen Bekannten. «Manche aus dem Bekanntenkreis ziehen sich aber auch eher zurück; ihnen ist das mit dem Sex nicht geheuer», sagt Bürki, die als Logopädin arbeitet.
Verantwortung für die eigene Sexualität übernehmen
Die persönlichen Geschichten im Buch haben die Autorinnen mit Interviews ergänzt – mit einem Tantra-Masseur, mit einer Erotik-Club-Inhaberin, mit einer Sexualtherapeutin. Viele Frauen im Buch berichten von offenen Beziehungen, Fesselspielen, Tantra-Kursen, Slow Sex oder Squirting (auch als weibliche Ejakulation bezeichnet).
Ist das ein realistisches Abbild des Sexlebens einer Durchschnittsfrau ab 40? «Wir hatten keine Mission, wollten in keine Richtung indoktrinieren», sagt Nadia Fernández. Möglich sei, sagen die beiden Autorinnen, dass sich sexuell aufgeschlossene Frauen eher zum Mitmachen entschieden hätten.
Beeindruckend fanden Fernández und Bürki jene Frauen, die Verantwortung für ihre eigene Sexualität übernehmen. Wie die eingangs erwähnte 76-jährige Anna:
Seit mir Tom den ersten Vibrator geschenkt hat, habe ich immer einen Vibrator besessen und benutze ihn wöchentlich. Ich geniesse es sehr, einen Orgasmus zu haben, und Sex ist ja auch gesund, nicht? Hätte ich einen neuen Partner, würde ich ihm als allererstes sagen, dass er sich auf keinen Fall für meinen Orgasmus verantwortlich fühlen soll. Für meinen Orgasmus bin ich selbst verantwortlich!
Oder Leona (48), die christlich-fundamentalistisch erzogen worden war, und deren Sexleben nach den Geburten der drei Kinder nicht mehr in Schwung kam – weil ihr Mann sich zurückzog. Mit 46 realisierte sie: Für ihr erfülltes Sexualleben war weder ihr Mann, ihre verklemmte Erziehung, ihre Sexualtherapeutin noch ein Seminar verantwortlich. Sondern sie selbst. Das Paar beschloss, die Ehe zu öffnen. Eine Zeit später hatte sie ihr erstes Date:
Als wir uns zum ersten Mal begegneten, wusste ich nach 30 Sekunden, dass es eine wichtige und sehr gute Erfahrung sein würde. Es war wundervoll, eine eigentliche Offenbarung! Endlich, endlich war es möglich: Sexualität auf gegenseitigen Wunsch ausgiebig, innig, nah, variantenreich und unbelastet zu erfahren.
Bestärkend, statt nur im Sinne von Warnungen über Sexualität zu sprechen, würde Mädchen beim Aufwachsen helfen, sind die Buchautorinnen überzeugt. Monica Bürki vermutet, Gespräche über Sex würden Frauen gegenseitig inspirieren und ihre Bindung stärken. Nadia Fernández sähe den Nutzen darin, dass man sich mit den eigenen Erfahrungen und Fragen nicht so alleine fühlt. Und: Die alte, weise Frau könnte manch’ jüngerer als Mentorin dienen.
Nadia Fernández, Monica Bürki: «Mein Sex. Frauen erzählen», Arisverlag
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