Wer fleissig auf den Streamingplattformen unterwegs ist, begegnet immer häufiger ungewohnten Frauenfiguren: Immer mehr Serien und Filme setzen auf Antiheldinnen und die Darstellung von weiblicher Gewalt. Serien wie «Russian Doll» (2019), «Killing Eve» (2018) oder «Fleabag» (2016) zelebrieren Frauen, die anders sind. Die Zeiten scheinen vorbei, in denen Frauen in der Regel die ausgleichende Rolle zum bösen, selbstbewussten und unabhängigen männlichen Bösewicht zugeteilt bekommen haben.
Fiona Wachberger (33) promoviert in Literatur- und Kulturtheorie an der Universität Tübingen und beschäftigt sich in ihrem Forschungsprojekt mit gewalttätigen Frauen in der Kriminalliteratur, im Film und in Serien. Sie sagt: «Weibliche Bösewichte gab es schon immer, jedoch waren sie bisher selten Sympathieträgerinnen.»
Bösewichte sind Genies, Bösewichtinnen haben Komplexe
Bösewichtinnen gibt es zwar schon länger, etwa auch in Volksmärchen. «Im Land der Fabelwesen und Märchen findet man die klassische Darstellung einer Bösewichtin», sagt Wachberger. Ob Schneewittchen, Aschenputtel oder Dornröschen: Für das Elend dieser Hauptfiguren ist stets eine weibliche Nebenfigur verantwortlich – die böse Königin, die Hexe, die böse Stiefmutter oder die beleidigte Fee.
Der Boshaftigkeit von Frauenfiguren geht in allen Fällen eine vermeintlich typische weibliche Eigenschaft voraus: Eifersucht und Neid. «Gewaltbereite Frauen werden stereotypisch porträtiert», erläutert Fiona Wachberger.
Wenn Frauen gewaltbereit dargestellt werden und den gesellschaftlichen Erwartungen zuwiderhandeln, dann stehe diese Handlung nicht alleine; «häufig wird ihre Beziehung zu einem Mann im Rahmen ihrer Gewaltbereitschaft abgehandelt». So geht im Thriller «Promising Young Woman» (2020) den brutalen Racheakten der Hauptfigur Cassie eine Vergewaltigungsgeschichte ihrer Freundin durch einen alkoholisierten Mitschüler voraus.
Verkürzt gesagt: Weibliche Bösewichte haben Komplexe, männliche sind Genies. Denn beim männlichen Bösewicht und Mörder sieht die Ausgangslage ganz anders aus. Serienmörder wie Jean-Baptiste Grenouille in «Das Parfum» (2006) oder Dexter Morgan in «Dexter» (2006) werden als Charaktere zelebriert. «Mörder und Bösewichte werden häufig attraktiv, sehr intelligent und geniehaft dargestellt», erklärt Fiona Wachberger. Der Mann tötet in diesen Fällen ohne Grund, aus Langeweile, weil er sich über dem Gesetz und über der Gesellschaft sieht. Der Mörder in der Art von Grenouille, der aus seinen weiblichen Opfern Parfum herstellt, fasziniert und wird als geradezu göttlich dargestellt.
Mordende und gewaltbereite Frauen in Filmen und Serien brauchen derweil immer ein Motiv, einen Grund für ihr unkonventionelles Verhalten. Weil, im «Normalfall» verhält sich eine Frau nicht so. «Das unbegründete Bösesein ist nach wie vor ein Männermonopol», sagt Wachberger.
Antiheldinnen – die personifizierte Sehnsucht
In der Antiheldin kommt nun in jüngerer Zeit ein neuer Typ der Bösewichtin zum Zug. Während der typische männliche Antiheld häufig als Schwächling oder Nerd dargestellt wird, sind Antiheldinnen stark, selbstbewusst und handeln selbstbestimmt. «Sie entsprechen nicht dem stereotypen Rollenbild der Frau und spielen damit. Dadurch untergraben sie dieses.» Ein Beispiel dafür sind die drei Mütter in der US-amerikanischen Fernsehserie «Good Girls» (2018). Diese beschliessen, ihre Geldsorgen mit einem Raubüberfall zu lösen. Obwohl sich die Frauen aus einer Not zu diesem Schritt entschliessen, irritiert die Handlung. «Sobald sich eine Frau unbegründet unmoralisch bereichert, sprengt sie das stereotype Frauenbild komplett», sagt Wachberger.
Bei den Antiheldinnen geht es also nicht nur darum, zu zeigen, dass Frauen genauso gewaltbereit sind wie Männer. Es geht um viel mehr. Stichwort: Selbstermächtigung. Die Antiheldin nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand und fällt Entscheidungen.
Das irritiert zunächst, denn wir sind es uns gewohnt, dass die Frau in ihrer Rettung und in ihrem Schicksal eine passive Rolle einnimmt. Sie schläft, ist traurig oder depressiv bis ihr Prinz, ihr Held, sie aus dieser Misere befreit. Nicht so die Antiheldin. «Antiheldinnen zelebrieren einen Akt des Widerstands, wenn sie ihrem Bedürfnis nach Freiheit aktiv selbst nachgehen», sagt Wachberger.
Das sei es auch, was viele Frauen und auch Männer an Antiheldinnen fasziniert. Sie stillen insbesondere bei Frauen die Sehnsucht danach, aus starren Rollenbildern auszubrechen. So wie bei der britischen Serie «Killing Eve» (2018). Die junge, gut aussehende und in ihrer Kleiderwahl exzentrische Serienmörderin Villanelle hält nicht viel von Konventionen und gesellschaftlichen Erwartungen. Sie folgt ungehemmt ihren Bedürfnissen und sagt, was sie denkt. Hat sie Hunger? Sie isst einen fettigen Burger und lässt durch Schmatzgeräusche alle an ihrer Befriedigung teilhaben. Hat sie Lust auf Sex? Sie holt sich jemanden ins Bett – Mann oder Frau. Egal. Möchte sie im rosaroten Tutu durch die Gegend spazieren? Sie machts. Findet sie was lustig? Sie kichert nicht, sie grölt.
Selbstermächtigung heisst also keinesfalls nur hemmungslose Gewalt, wie es die Antiheldinnen auf der Mattscheibe zelebrieren. Fiona Wachberger sagt: «Antiheldinnen sind nicht Antiheldinnen, weil sie gewalttätig sind, sondern, weil sie geschlechterspezifische Erwartungen und Normen unterwandern und mokieren.»
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