Die Bäume rauschen, ein Tukan schreit. Leise plätschert der Bach durch den dichten Wald, im Gehölz raschelt es. «In den Regenwald einzudringen, ist schwierig», schreibt Sebastião Salgado (79). Über den Fluss, das Dickicht und die Luft reiste der weltberühmte brasilianische Fotograf sieben Jahre lang in die entlegensten Gebiete des Amazonas.
Wer keine sieben Jahre, sondern nur ein paar Stunden Zeit hat, die lässt Salgado mit seiner wuchtigen Ausstellung «Amazônia» in der Maag-Halle Zürich in den Regenwald eintauchen.
Mehr als 200 Aufnahmen porträtieren die überwältigende Schönheit eines der wertvollsten Ökosysteme der Welt: dramatische Wolkenformationen, das überirdische Licht in der Serra do Marauiá oder die endlosen Windungen des Cauaburi-Flusses. Und die Dschungelgeräusche? Die stammen von einem eigens für die Ausstellung komponierten Audiotrack des Musikers Jean-Michel Jarre (74).
In Porträts und Videointerviews erzählen indigene Menschen aus dem Amazonasgebiet von ihrem Leben und ihrer Kultur, doch auch von Angst und Wut – denn ihr Zuhause ist in grosser Gefahr.
144 Stämme hatten noch nie Kontakt zur Aussenwelt
«Als ich ein Kind war, begann die Regenzeit immer pünktlich», sagt Mapulu und blickt in die Kamera. Oranges Oberteil, weisser Holzschmuck. Sie ist Schamanin der Kamayura, eines Stamms im brasilianischen Amazonas. «Wir fühlten nicht diese Gluthitze», erzählt sie in einer Videoinstallation von ihrem Schicksal.
Die Kamayuras sind eine von 188 indigenen Gruppen im Amazonasgebiet. Bis heute sind 144 der identifizierten Gruppen niemals kontaktiert worden.
Der Amazonas bedeckt fast ein Drittel Südamerikas. In dem gigantischen grünen Teppich sind zehn Prozent aller Arten zu Hause, 20 Prozent unseres Sauerstoffs werden hier produziert, der gleichnamige Fluss ist für 20 Prozent des weltweiten Trinkwasservorrats verantwortlich.
Das Dorf von Mapulu liegt am Ufer des Ipavu-Sees. Die Schamanin ist besorgt: «Es gibt immer mehr Waldbrände. Die Farmer bauen Staudämme, schütten Gift in die Flüsse. Unsere Fische sterben – wo sonst sollen wir Essen finden?» Als portugiesische Seefahrer im Jahr 1500 in Brasilien landeten, lebten rund fünf Millionen Indigene in diesem üppigen, dichten Dschungel.
Schon 17,2 Prozent des Amazonas zerstört
Ab dem 17. Jahrhundert schossen am Rand des Regenwalds Dörfer und Städte aus dem Boden. Der Wald musste weg, Rinderfarmen und Sojaplantagen mussten her. Jedes Jahr vergrössern Zehntausende Farmen ihre Ländereien und zerstören die indigenen Territorien – bis heute. Illegale Holzunternehmen und Goldsucher witterten das grosse Geld und fressen sich von allen Seiten immer tiefer in den wertvollen Wald.
Bis 2019 wurden bereits 17,2 Prozent des gesamten Amazonas vernichtet. Allein diesen März sind in Brasilien 356 Quadratkilometer Regenwald zerstört worden – ein Anstieg um 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Und das, obwohl Umweltschützer gehofft hatten, dass die Rate unter der neuen Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva (77) sinken würde.
Im April fielen zwar 68 Prozent weniger Waldfläche den Maschinen zum Opfer als im Vorjahr, doch waren dies noch immer 328 Quadratkilometer – 46'000 Fussballfelder in nur einem Monat. Und somit weit entfernt vom «Nullentwaldungsziel», das Lula während seines Wahlkampfs versprach.
Es wird befürchtet, dass die Entwaldung bald einen Point of no return erreicht – einen Zustand, von dem sich das Ökosystem nicht mehr erholen kann und sich riesige Waldgebiete in Savannen verwandeln. Die Auswirkungen auf die Erde, ihr Klima und die Menschheit wäre katastrophal. «Ich habe Angst», sagt Mapulu im Video. «Sie zerstören unseren Wald, und die Regierung kehrt uns den Rücken zu.»
Von Ökonomie zur Fotografie
Weite Ebenen und schroffe Gebirge, üppige Wälder und das eindrückliche Leben darin: Für «Amazônia» verewigt Salgado den Überlebenskampf von zwölf indigenen Gemeinschaften, die er zwischen 2013 und 2019 besucht hat.
Aufgewachsen ist Salgado auf einer brasilianischen Fazenda, einem Bauernhof. «Mehr als 50 Prozent des Farmlands war Regenwald, ein sagenhaft schöner Ort», sagt Salgado in einem Ted-Talk. Er und seine Frau, Lélia Deluiz Wanick (76), engagierten sich in der Bewegung gegen die Militärdiktatur. 1969 musste das Paar Brasilien verlassen und zog nach Paris.
Salgado, eigentlich studierter Ökonom, kam 1973 durch diverse Geschäftsreisen auf die Fotografie. Er wurde hauptberuflicher Fotograf, reiste für seine Langzeitprojekte in mehr als hundert Länder. Heute gehört er zu den einflussreichsten zeitgenössischen Fotografen und hat zahlreiche Preise und renommierte Auszeichnungen erhalten. Seine Frau ist Kuratorin der Ausstellung «Amazônia» und gibt fast alle seine Bücher heraus.
Er pflanzte zweieinhalb Millionen Bäume
Viele Jahre und Projekte später übergaben seine Eltern Salgado das Farmland. «Das Land war tot», erinnert sich Salgado: Weniger als ein Prozent war Regenwald. Auf die Idee seiner Frau hin begann das Paar, einheimische Bäume zu pflanzen. Hunderte, bald Tausende und schlussendlich zweieinhalb Millionen. «Und ganz langsam kehrte das Leben zurück», sagt der Fotograf über das Farmland, das er dem brasilianischen Staat als Nationalpark geschenkt hat.
Es war der Auftakt seines Engagements für den Regenwald. Er und Wanick gründeten das Instituto Terra, das sich der Aufforstung und dem Naturschutz verpflichtet hat. Die beiden unterstützen zahlreiche Projekte zum Schutz der Indigenen.
Auf seinen Reisen in den Amazonas verlor er fast ein Auge und musste zwei Mal am Knie operiert werden. Doch ist es ihm ein grosses Anliegen, die Pracht und Zerbrechlichkeit des Regenwalds aufzuzeigen: «Ich wünsche mir mit all meiner Energie und Leidenschaft, die ich in ‹Amazônia› investiert habe, dass diese Ausstellung in 50 Jahren nicht einer verlorenen Welt gleicht», sagt Salgado. «Der Amazonas-Regenwald muss weiterleben – und in seinem Herzen immer seine indigenen Bewohner haben.»
Die Ausstellung «Amazonia» dauert bis zum 24. September.