Sie verringern Müllberge und bieten uns kulinarische Höhenflüge oder neue Möbel. Upcycling, in Zukunft eine Notwendigkeit, muss nicht kompliziert sein. Diese drei Schweizer Firmen sind Vorreiter einer neuen Philosophie, was unseren Umgang mit Ressourcen angeht.
Schmeckt gar nicht wie Sägemehl
Hatten Sie schon einmal Igelstachelbart? Wissen Sie überhaupt, was das ist? Wenn Sie den hierzulande noch eher unbekannten Pilz einmal auf Ihrem Teller hatten, vergessen Sie ihn nie wieder. Und Sie wollen mehr. Wachsen tut er auf Sägemehl und anderen Landwirtschaftsabfällen, etwa Sojahülsen, schmecken tut er unvergleichlich: Die Konsistenz liegt zwischen Poulet und Milken, der Geschmack zwischen Schnitzel und Jakobsmuscheln. In der chinesischen Medizin gilt er als Heilpilz. Bleibt nur die Frage: Weshalb liegt der Wunderpilz eigentlich nicht in unseren Supermärkten?
David Jucker (34), ausgebildeter Bioanalytiker, kann es sich auch nicht erklären. Er züchtet den Igelstachelbart seit 2017. Zuerst aus Eigeninteresse mit Kollegen, seit 2022 mit seinem Mitstreiter Kaspar Zimmermann (37) und ihrer Angestellten Francesca Savulla (49) professionell als GmbH. Unter dem Namen Stadtpilze wachsen im Keller und im Parterre eines Lagergebäudes in Basel monatlich Hunderte von Kilo hierzulande eher noch unbekannterer Pilze mit Namen wie Limonenseitling (sehr hübsch gelb, lecker und fest im Biss), Pioppino (samt braunen Kappen, steinpilzähnliches Aroma), die bekannteren Austernseitlinge und eben der seltene Igelstachelbart. Dreimal pro Woche verkaufen die Stadtpilzler ihre Ernte auf dem Markt, mehrfach wöchentlich gehen ihre Erzeugnisse an die Spitzengastronomie in der Region – allein im Februar waren es insgesamt 260 Kilo. Wobei es für den Igelstachelbart mehr Nachfrage als Angebot gibt – trotz des Preises von 96 Franken pro Kilo.
Pröbeln, selber essen, ernten – schliesslich wachsen sich die Pilze zu einem Geschäft aus
Günstiger kommen mit rund 35 Franken pro Kilo die Austernseitlinge. Die fruchten zuverlässiger und ergiebiger, weiss Jucker nach Jahren von «Trial and Error». Denn sein Geschäftsmodell war zunächst ein Hobby, angefangen hat es mit Youtube-Filmen. Tatsächlich finden sich bis heute unzählige Filme, die zeigen, wie man mit einer Mischung aus Kaffeesatz und Sägemehl mit geringem Aufwand eine reiche Ernte an Pilzen einfährt. Jucker ist fasziniert – er holt sich aus Restaurants alten Kaffeesatz, aus Sägereien übrig gebliebenes Sägemehl und beginnt, mit zwei Kollegen zu experimentieren.
Die springen irgendwann ab, dafür stösst Zimmermann dazu. Der Chemiker mit Doktortitel ist schon als Kind gern pilzeln gegangen und findet grundsätzlich «einfach den Organismus spannend». Er schreibt Jucker deshalb an. Bei Jucker ist das Hobby bereits zum Geschäft geworden, und die Abläufe sind professionalisiert. Das Sägemehl stammt aus grossen Sägereien im Umland. Den Kaffeesatz aus Restaurants – «der ist leider oft zu alt und wird deshalb schimmlig» – hat Jucker nach viel Pröbeln durch andere Abfallprodukte aus der umliegenden Landwirtschaft ersetzt. Etwa durch Sojahülsen oder Biertreber. Kombiniert und befeuchtet, verfügt diese Mischung über genug Lignin, Zellulose und Nährstoffe, damit Pilze wachsen können.
Im Betonmischer mixen die drei die zwei befeuchteten Abfallprodukte aus Industrie und Landwirtschaft zusammen, füllen die Mischung – ab jetzt Substrat genannt – in Plastiksäcke ab und sterilisieren es in einer Maschine, die Temperatur und Druck auf das Substrat ausübt und so vorhandene Keime abtötet. Danach kommen die Substratblöcke in einen sogenannten Reinraum, eine Art Zelt, in dem ein Gebläse hinter der Arbeitsfläche dafür sorgt, dass ein steter Strom steriler Luft Keime, die das Substrat verschmutzen könnten, weggeweht. Denn in normaler Atemluft befinden sich zu jeder Zeit unzählige Pilzsporen, die im Substrat wachsen würden. Nur erhält man dann keinen Igelstachelbart, sondern grünblaue Schimmelpilze.
Pilze brauchen Substrat, hohe Luftfeuchtigkeit, Sauerstoff und die richtige Temperatur
In diesem Reinraum öffnet Zimmermann die Tüten kurz und beimpft das Substrat mit einer Flüssigkeit, in der Pilzsporen bereits gewachsen sind. Nun heisst es warten: Innert rund drei Monaten entwickelt sich in der verschlossenen Tüte ein Mycel, sozusagen die «Wurzeln» eines Pilzes. Um das Mycel zum Fruchten zu bringen, braucht es drei Dinge: Sauerstoff, Luftfeuchtigkeit und die richtige Temperatur. Ein kleiner Schnitt am Rand des Plastiksacks sorgt für die Sauerstoffzufuhr. Damit die Substratblöcke an den Schnittstellen nicht austrocknen, lagern sie in einer Art Feuchtigkeitszelten bei einer Temperatur von rund 17 Grad im Keller. Zuverlässig fruchten so die Substratblöcke, und aus den Schnitten wachsen die Fruchtkörper, die man zur Ernte schliesslich nur noch abschneiden muss.
Drei bis vier Mal ernten sie pro Block – danach wird das Substrat kompostiert und zu hochwertiger Erde. Im Vergleich zu einer industriellen Produktion braucht es wenig, um aus Sägemehl Delikatessen herzustellen: Eigentlich sind es drei, vier Maschinen, wenig Energie und hauptsächlich Arbeitskraft. Und, als einziger Wermutstropfen, Plastiktüten. «Das ist das Einzige, das wir nicht wiederverwerten und das nicht im Kreislauf ist», sagt Jucker. «Anfangs haben wir mit wiederverwertbaren Plastikkübeln aus der Industrie gearbeitet. Aber der Arbeits- und Ressourcenaufwand um sie wiederverwertbar zu machen, ist einfach zu gross.» Sobald aber ein kompostierbares Material verfügbar sei, würden sie umstellen.
Jucker, Zimmermann und Savulla machen von der Zucht bis zur Reifung, Ernte und Distribution alles selber. Viel Herzblut und viel Arbeit steckt hinter ihrer Geschäftsidee – wie bei einem Pilz, der erst nach geraumer Zeit so richtig fruchtet. Seit Januar wirft ihr Projekt einen Lohn für alle drei ab. Wer einmal Igelstachelbart auf dem Teller hatte, ist ihnen dankbar, dass sie drangeblieben sind. Und Jucker sagt: «Wir sind Glückspilze!»
«Tschipps», Egli, Pizza, Geschnetzeltes – statt Biogas oder Schweinefutter
Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Lobpreisung auf Brotbier stehen. Brotbier ist ein Bier, dessen Getreideanteil zu einem gewissen Anteil durch altes, gemahlenes Brot ersetzt wurde. Bread Beer nennt sich etwa ein besonders wohlschmeckendes, relativ frisch lanciertes des Weinfelder Start-ups Damn Good. Brauen tut es in deren Auftrag die legendäre Brauerei Locher, die für ihr Appenzellerbier und das Quöllfrisch bekannt ist.
Wir besuchen also die Brauerei Locher, um über das wohlschmeckende Bread Beer zu schreiben – bloss hat Geschäftsführer Aurèle Meyer (41) noch mehr auf Lager. Biertreber – was das genau ist, folgt später – ist gerade das grosse Thema der Brauerei, und sie kriegen uns damit rum, dass sie uns ungefragt ein Fünf-Gänge-Menü servieren. Erster Gang: sogenannte Tschipps mit Dips. Die Tschipps, Sie ahnen es, sind aus dem ominösen Treber hergestellt. Genauso wie der Essig, mit dem der eine Dip aromatisiert ist. Die Salatsauce? Mit Bieressig angerichtet – und der Bieressig? Aus gerettetem Bier. Das Geschnetzelte? Aus Treber. Das Gehackte in der Lasagne? Aus Treber. Das aus der hauseigenen Fischzucht auf dem Teller gelandete Eglifilet? Ein Filet von sechs Tonnen Fisch pro Jahr. Mit Treber und mit Bierhefe gefüttert. Das Dessert? Mit einer Art caramelisierten Cornflakes – aus Treber – umhüllte Malzmousse. Wir sind bekehrt.
Besagter Treber, der Rohstoff, aus dem all diese Sachen mittels verschiedenster Verfahren hergestellt sind, ist eigentlich Gerste. Respektive das, was von der Gerste nach dem Bierbrauprozess übrig bleibt. Vielleicht wissen Sie's schon: Gerste wird gekeimt, erhitzt und heiss getrocknet. Bierbrauer schroten und mahlen das so entstandene Malz und setzen es mit Wasser an. Bei verschiedenen Temperaturen und unter konstantem Umrühren gelangen, vereinfacht gesagt, Aromastoffe, Eiweisse und Zucker in die Flüssigkeit, die nach dem Abseihen zu Bier gebraut wird. Was zurückbleibt, ist der Treber – und mit ihm diverse Eiweisse, Aminosäuren, Ballaststoffe und Vitamine.
Treber ist also eigentlich ein vielversprechender Rohstoff, mit dem aber bis anhin niemand so recht etwas anzufangen wusste: Man verfütterte ihn in der Viehzucht. Doch in den zunehmend heissen Sommern wird dies zum Problem: Bis der Treber bei den Bauern angekommen ist, sind die 100 Tonnen, die pro Woche anfallen, bereits verdorben, ständig neue Regulierungen für Futtermittel machen ausserdem die Verteilung schwieriger. Zum Schluss bleibt nur noch die Biogastonne – eine unglaubliche Ressourcenverschwendung.
Inhaber Karl Locher beschränkt sich auf die Entwicklung von Ideen – mit Erfolg
Damit Innovationen entstehen können, braucht es Menschen mit zündenden Ideen – und bei der Brauerei Locher gibt es einen solchen: Als Karl Locher (62) und sein Cousin 1992 das Geschäft übernehmen, hat das Familienunternehmen zehn Mitarbeiter, davon sind sechs Familienmitglieder. Die Brauerei ist unter anderem durch das sogenannte Bierkartell klein gehalten worden – eine Absprache zwischen Schweizer Brauereien, die reguliert hat, welche Brauereien in welchen Schweizer Gebieten ihre Produkte anbieten dürfen und gleichzeitig das Schweizer Bier vor der ausländischen Konkurrenz schützte.
1991, nach Machtkämpfen mit Grossverteilern wie Denner, fällt das Kartell – für einige Brauereien bedeutet dies das Aus, sie können sich nicht gegen die Konkurrenz durchsetzen. Karl Locher ist aber der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Er setzt auf Diversifizierung, also darauf, erkennbare, manchmal auch kleine Marken zu schaffen, etwa das nur bei Vollmond gebraute Vollmond, das Hanfbier oder das naturtrübe Quöllfrisch in den als cool empfundenen Bügelflaschen. Er stellt auch das erste Biobier her, findet dank seinem naturnahen Ansatz einen Partner in Coop und ist mittlerweile der grösste Abnehmer für Schweizer Getreide.
Locher steigert den Umsatz seiner Brauerei dank diesen clever beworbenen Nischenprodukten konstant – heute beschäftigt die Brauerei Locher 170 Menschen. Und er merkt, dass er lieber tüftelt, als das Geschäft zu führen, gibt die Leitung an den Betriebswirtschafter ab und verlegt sich auf die Produktentwicklung. Drängendstes Problem: Was macht man mit dem Treber?
Auch beim Treber setzt Locher auf Diversifizierung – und behält ein offenes Ohr für alte wie auch neue Verfahren. Neben der Verarbeitung zu Schnaps, Essig, einer Art Mehl und anderen Produkten ist er insbesondere vom Extrusionsverfahren elektrisiert. Als erbsenbasierte Fleischersatzprodukte auf den Markt kommen, ist er überzeugt: Das Verfahren, bei dem sich unter hohem Druck und unterschiedlicher Temperatur Mehle verschiedenster Getreidearten oder Hülsenfrüchte zu einer formbaren, weiterverarbeitbaren Masse wandeln, ist auch für Biertreber anwendbar – und die Gerste, die beim Bierbrauen bis anhin nur sozusagen zur Hälfte genutzt wurde, ist als Ausgangsprodukt für Upcycling zu Fleischersatz, Chips und Cornflakes ideal.
Fünf Gänge haben uns überzeugt, über Treber zu schreiben. Unter dem Namen Brewbee werden die diversen Tschipps, Cornflakes, die Fleischersatzprodukte, aber auch Fertigpizzas bald beim Grossverteiler in den Regalen liegen. Zu Letzteren passt ein Appenzellerbier, ein Quöllfrisch – oder eben das Bread Beer, ein anderes Upcycling-Projekt, das wir eigentlich bejubeln wollten.
Möbel aus Industrieresten
Inspiriert vom Studium zum Holzbautechniker HF in Biel BE, begann es im Hirn von Jan von Wartburg (27) zu brodeln. «Ich suchte nach einer Geschäftsidee, die mit wenig Startkapital sofort funktioniert, für die man also nicht erst eine Werkstatt mit teuren Maschinen einrichten muss», sagt er – und hat bald einen Heureka-Moment: Industrie-Paletten sind günstig verfügbar. Aus ihnen erstellt er zunächst Tische oder Betten und Regale.
Mit zunehmendem Auftragsvolumen wird ihm aber bald klar: «Eigentlich müsste es einen effizienteren Weg geben, als tagelang Paletten auseinanderzunehmen.» Der zweite Heureka-Moment lässt nicht lange auf sich warten: Industrieholzkisten, die hauptsächlich für den Versand benutzt werden, stehen in unzähligen Betrieben herum, um entsorgt zu werden – und sie lassen sich einfacher verarbeiten. In Einzelteile zerlegt, sortiert und mittels speziellen Oberflächenbearbeitungen aufbereitet, generiert von Wartburgs Firma reWood so das Ausgangsmaterial für ihre Produkte.
Ausgangspunkt ist nicht das Möbel, sondern das Material
Anders als in konventionellen Schreinereien richtet sich das fertige Produkt nach dem Ausgangsmaterial: Die einzelnen Möbel sind so designt, dass möglichst kein Abfall entsteht. Die verschiedenen Regale, Tische und Hocker sind zum einen im Webshop der Firma erhältlich. Zum anderen stellt reWood aber auch Spezialanfertigungen nach den Wünschen der Kundschaft her. Absatztendenz und Auftragsvolumen: stark steigend. Seit 2017 beschäftigt von Wartburg gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Nicolas Pfister sechs Angestellte in Teilzeitpensen, darunter auch zwei Schreiner – und hat sich selber darauf beschränkt, die Firma zu managen und Visionen zu entwickeln. «Wir lassen den Baum im Wald stehen», lautet das Motto von reWood. Das ist eigentlich zu bescheiden: Denn reWood lässt gleichzeitig den Strom in der Steckdose, den es zur Herstellung von Brettern braucht, und das Benzin in der Tankstelle, das es zum Transport der Bäume in die Sägerei braucht.
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