Autotüren knallen durch die sommerliche Morgenluft, Volvos und Peugeots parkieren knurrend ein. Auf dem Parkplatz eines Take-aways in Rohr AG herrscht schon am frühen Mittwoch Hochbetrieb. Eine Handvoll erwachsener Männer drückt sich am Schaufenster die Nasen platt. Nicht wegen Pizza oder Pide – sie sind wegen des Ladens nebenan gekommen. Dort, wo sich hinter dem Glas Dampfloks und Züge im Kleinformat stapeln.
Reto Berger (42) geht vor dem Schaufenster auf und ab. Er ist extra aus Zürich hergefahren. Vor einem Jahr fing alles an, als er mit seinem dreijährigen Sohn einen Ausflug ins Verkehrshaus Luzern machte. «Wir standen vor diesen riesigen Dampfloks und konnten nichts anderes tun, als zu staunen.» Zu Hause holte er die Züge seiner Kindheit vom Estrich. Hastig blickt er zur Tür. «Jetzt muss ich aber rein!» Es ist neun Uhr, das Modellbahncenter macht auf.
Es ist der letzte Ausverkauf des schweizweit bekannten Ladens. Nach einem halben Jahrhundert schliesst Eurobahn Mitte Juli für immer seine Türen. Der Abschied fällt Team und Kundschaft schwer, denn die Leidenschaft der Bähnler ist überwältigend.
Überrollt von tausend Emotionen
Berger und die anderen Männer strömen in den Laden, verschwinden in den Gängen zwischen Vitrinen voller Loks der Marken Roco, Märklin, Minitrains. Im Gang rechts baumeln Hunderte Dekobäume und Figürchen. Ein Kunde um die siebzig hat sich gerade die letzten Packungen «Water drops» geschnappt. Ein spezielles Granulat, mit dem er Modellgewässer bastelt. «Mein Seeli ist noch nicht ganz fertig», sagt er.
Hinter ihm schlängeln sich Loks durch liebevoll gestaltete Berge und Wälder, von den Bahnhöfen winken Kinder. Das riesige Diorama war das Corona-Projekt des Eurobahn-Teams. «Wir haben so lange daran gearbeitet», sagt Judith Stofner (61) mit Tränen in den Augen. Die Geschäftsführerin steht heute hinter der Kasse und begrüsst die Kundschaft. Oder eher: Sie verabschiedet sie.
In den letzten Wochen wurde Eurobahn überrollt. Vom Schock über die plötzliche Schliessung, von so vielen Anrufen und Mails, dass Stofner den Onlineshop deaktivieren musste. Alle wollten noch etwas bestellen, noch einmal vorbeikommen. Doch vor allem wurde Stofner überrollt von «tausend Emotionen auf einmal», wie sie sagt.
Die heile Welt im Kleinen
Da war der Kunde, der extra aus England hergeflogen ist, um sich zu bedanken. Oder das Paar, das einen Blumenstrauss brachte. Viele sind unzählige Jahre hergekommen, nach der Arbeit, um sich etwas Schönes zu gönnen, oder einfach nur, um zu plaudern. Manche lockte die Nostalgie hierher, andere wollten die neuen Züge im Sortiment bestaunen. Die Bähnler seien ein «eigets Völchli», sagt Stofner, «die betreiben das Hobby mit Herz und Seele».
Die meisten sind Männer, für die es nichts Schöneres gibt, als wenn alles funktioniert. Wenn sie sich über ihre Anlage beugen und die Schienen rattern wie geschmiert, dann liegt die Welt, gross und immer komplexer, für einen Nachmittag wieder in ihren Händen. Eine heile Welt im Kleinen, übersichtlich und kontrollierbar. Der Laden ist ein Mikrokosmos. Wer ihn betritt, lässt den Alltag vor der Türe zurück.
1. Rod Stewart (78)
Rock, Pop und Eisenbahn – auf Tourneen mietet der britische Musiker gerne zwei Hotelzimmer. Eins für sich und eins für seine Bahn, an der er seit mehr als zwanzig Jahren baut.
2. Phil Collins (72)
2008 schraubte der Sänger («In the Air Tonight») in seinem Haus am Genfersee so begeistert an seiner Anlage, dass er die Aufnahme seines geplanten Albums verschob.
3. Hansjörg Wyss (87)
In seinem Garten auf der Insel Martha's Vineyard, einer der exklusivsten Adressen der USA, steht die Modelleisenbahn des Schweizer Unternehmers und Multimilliardärs.
4. Horst Seehofer (73)
In seinem Ferienhaus hat der deutsche Ex-Innenminister auf 20 Quadratkilometern Modelleisenbahn seine Lebensabschnitte nachgebaut.
Weitere berühmte Bähnler: die Musiker Neil Young, Eric Clapton und Johnny Cash, Basketballprofi Michael Jordan und Schauspieler Tom Hanks.
1. Rod Stewart (78)
Rock, Pop und Eisenbahn – auf Tourneen mietet der britische Musiker gerne zwei Hotelzimmer. Eins für sich und eins für seine Bahn, an der er seit mehr als zwanzig Jahren baut.
2. Phil Collins (72)
2008 schraubte der Sänger («In the Air Tonight») in seinem Haus am Genfersee so begeistert an seiner Anlage, dass er die Aufnahme seines geplanten Albums verschob.
3. Hansjörg Wyss (87)
In seinem Garten auf der Insel Martha's Vineyard, einer der exklusivsten Adressen der USA, steht die Modelleisenbahn des Schweizer Unternehmers und Multimilliardärs.
4. Horst Seehofer (73)
In seinem Ferienhaus hat der deutsche Ex-Innenminister auf 20 Quadratkilometern Modelleisenbahn seine Lebensabschnitte nachgebaut.
Weitere berühmte Bähnler: die Musiker Neil Young, Eric Clapton und Johnny Cash, Basketballprofi Michael Jordan und Schauspieler Tom Hanks.
51 Jahre lang gehörte das Modellbahncenter in die Szene wie eine Blechlok auf die Nullspur. Mit über 4000 Kundinnen und Kunden ist Eurobahn einer der grössten Schweizer Läden seiner Art – und wirtschaftlich stabil, wie Stofner betont. Trotzdem muss er am 15. Juli schliessen, weil die neuen Eigentümer andere Pläne mit der Liegenschaft haben. Dabei ist es eines der traditionsreichsten Hobbys der Schweiz.
Vom Teufelswerk zum Kinderspielzeug
Zischend rollte eine der bahnbrechendsten Erfindungen aller Zeiten durch das frühe neunzehnte Jahrhundert. Die gewaltigen Dampfrösser beeindruckten Erwachsene und Kinder. Kein Wunder, liessen reiche Familien schon bald Spielzeug-Loks für ihren Nachwuchs anfertigen. Die erste dokumentierte Modellanlage gehörte 1859 dem Sohn von Napoleon III. und schlängelte sich durch den Schlossgarten Saint-Cloud.
Die Industrie nahm Fahrt auf. Mit Marken wie Märklin und Bing werkte sich Deutschland zum Produktionszentrum. Doch auch die Schweiz spielte eine bedeutende Rolle. «Nur wenige wissen, dass die Innerschweiz einst Hochburg der Modelleisenbahn war», sagt Beat Klarer (70). Der Eisenbahn-Experte hat sich in seiner Freizeit mit der Geschichte der historischen Modelleisenbahn-Industrie beschäftigt.
Der Zweite Weltkrieg brachte den Import deutscher Modellbahnen in die Schweiz zum Erliegen. «Deshalb begannen zahlreiche Schweizer Firmen, sie selber herzustellen», weiss Klarer. Zum Beispiel die Luzerner Marken CAR und Resal oder das Zuger Unternehmen ERNO. Die Nachfrage explodierte, die benötigte Präzision übernahmen die Hersteller aus der Maschinenindustrie.
Die Schweiz als Pionierin
So konnten sie nicht nur mit den deutschen Firmen mithalten, sondern leisteten gar technische Pionierarbeit. «Die Lokomotive Ae 4/7 von CAR wird noch heute hergestellt – in einer modifizierten Version, sagt Klarer. Schon Ende der 50er-Jahre bremste der Schweizer Modellboom ab, als deutsche Hersteller wieder lieferten, dank ihrer Grösse zu deutlich tieferen Preisen. Fast alle Schweizer Marken gingen Konkurs, nur die Firma HAG in Stansstad NW produziert heute noch die bekannten H0-Modelle.
Doch auch Märklin machte qualvolle Jahre durch. 2009 meldete das deutsche Kult-Unternehmen Insolvenz an – ausgerechnet zum 150-jährigen Jubiläum. Neue Eigentümer setzten daraufhin auf soziale Medien, um das Image der Modellbahn zu entstauben und eine jüngere Kundschaft anzuziehen.
Auch die Corona-Pandemie verschaffte dem Hobby gewaltigen Aufschwung, als die Züge im Lockdown wieder aus den Kellern gekramt wurden. Märklin verzeichnete 2020 rund 40 Prozent mehr Aufträge als im Vorjahr.
«Hobbys machen zufriedener und kreativer»
Um ein Haar wäre der Karton runtergefallen! Jan (25) packt ihn gerade noch und legt ihn zurück auf den Stapel in seiner linken Hand. Wie lange er schon «Bähnler» sei? «Schon vor seiner Geburt», ruft einer seiner Freunde von der Kasse herüber. Jan lacht. Er ist heute mit seinen fünf Freunden hergekommen, sie kennen sich über ihr Hobby.
Auf die Frage, was er denn jetzt noch für seine Anlage brauche, grinst er und antwortet: «Na ja, was braucht man denn schon wirklich bei diesem Hobby?» Sein Freund ruft: «Einen Kühlschrank und Bier!» Vieles laufe heutzutage in Eisenbahnforen im Internet ab, sagt Jan. Das sei praktisch, auch für die neuen Gesichter in der Szene. Dort gebe man sich Ratschläge oder diskutiere über neue Züge. Ein neuer, jüngerer Austausch.
Dass die Modelleisenbahn zurück auf die Liste der beliebtesten Hobbys rollt, hält der Hamburger Freizeit- und Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt (52) jedoch für ausgeschlossen. Nur selten schaffen es als altmodisch abgestempelte Hobbys zur Renaissance, wie zuletzt das Gärtnern. Die Eisenbahnszene sei sehr männlich, erfordere ausserdem ein relativ hohes Mass an Fachwissen. Beides erschwert der breiteren Masse den Einstieg.
Die unzähligen Möglichkeiten heutzutage katapultieren Hobbys wie die Modelleisenbahn ausser Mode. Auch das Internet und Smartphone wetteifern um unsere Aufmerksamkeit. Dabei wäre ein Hobby alles andere als Zeitverschwendung – sondern ein gesunder Kontrast zur Arbeitswelt. Reinhardt sagt: «Langfristig machen sie zufriedener und kreativer, weil man die Zeit vergessen und sich ohne Druck neue Projekte überlegen kann, die einem Spass machen.»
Das Geschenk für Papa und Sohn
Die Kasse piept, Stofner scannt die Kartons. Ein Zug nach dem anderen verlässt den Laden, in dem sie gearbeitet hat, seit sie 26 war. Ob sie damals geahnt habe, dass sie 35 Jahre ihres Lebens mit Modelleisenbahnen verbringen würde? «Niemals», gesteht sie und muss lachen. Sie wird Eurobahn vermissen. Ihr «Völchli» und ihren Mikrokosmos, in den sie jeden Tag eingetaucht ist. «Wer weiss, vielleicht biete ich weiterhin Kurse für die Landschaftsgestaltung an?»
Auch Berger kommt zur Kasse, die Hände voller Kartons. «Ein Lok-Set», verrät er. «Für meinen Sohn, der hat heute Geburtstag.» Als er die Packungen zum Auto bringt, um nach Zürich zurückzufahren, strahlt er übers ganze Gesicht. Denn ein kleines bisschen ist die Lok auch für ihn selbst.
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