Es ist noch dunkel, als die erste Drohne übers Feld fliegt. Wer Rehkitze retten will, muss früh aufstehen – und sich warm anziehen. Um 4.30 Uhr ist es unter 10 Grad, das Gras ist nass vom Regen der Nacht. Für Thomy Christen (54) ist es der achte Einsatz in dieser Saison. Er ist einer von rund 670 freiwilligen Drohnenpiloten des Vereins Rehkitzrettung Schweiz, die so vielen Rehkitzen wie möglich das Leben retten wollen.
«Die Körpertemperatur der Kitze beträgt 25 Grad», erklärt Christen, der für das südliche Knonaueramt im Kanton Zürich zuständig ist. «Unter der Wärmebildkamera leuchten sie wie Glühwürmchen.» Denn sonst sind die Kitze im Feld fast unmöglich zu finden. Dort setzen die Rehgeissen ihre Jungen zwischen Mai und Anfang Juli zur Deckung und Tarnung ins hohe Gras. Vor Füchsen sind sie sicher, weil sie noch geruchlos sind. Die Gefahr droht von woanders, von der Mähmaschine.
Kitze haben keine Chance gegen Landmaschinen
«Diese Maschinen sind bis zu neun Meter breit und fahren mit 15 km/h. Oft bleibt es unbemerkt, wenn ein so kleines Wesen überrollt wird», sagt Christen.
Durch ihren angeborenen Drückinstinkt verharren die Rehkitze bei Gefahr ganz still und pressen sich tief in den Boden. Zwar verliert sich der Instinkt nach zwei bis drei Lebenswochen. Aber auch dann springen sie erst auf, wenn die Gefahr ganz nahe ist – zu spät, um noch zu flüchten.
Die Flugverbotszone während des Friedensgipfels auf dem Bürgenstock dieses Wochenende schreckte den Verein Rehkitzrettung auf. Er erreichte immerhin, dass der gesperrte Radius für Drohnen verkleinert wird: Bis 27 Kilometer – statt 46 Kilometer – vom Bürgenstock sind die Drohnenflüge verboten. Damit sind Einsätze zur Rehkitzrettung bis morgen Montagabend in dieser Zone unmöglich.
Sinnvolles Hobby zum Tierwohl
Auf dem ersten Feld Moosweid leuchtet kein Kitz auf dem Monitor des Drohnenpiloten auf. Sieben Felder haben die Bauern in der Region Knonaueramt an diesem Morgen für eine Kontrolle angemeldet. Sie wollen die wenigen trockenen Tage endlich zum Mähen nutzen. Um kein Rehkitz zu gefährden, verlassen sie sich auf Hightech der Drohnenpiloten. «Die Suche von oben mit dem Multikopter und der Wärmebildkamera ist am sichersten und effektivsten», sagt Christen. Die Drohne steigt 60 Meter hoch, die Route ist programmiert. Tiefer geht der Pilot erst, wenn er etwas Verdächtiges sieht.
Christen ist Profi. In seinem Job entwickelt er die GPS-Technologie, unter anderem für Drohnen. «Als ich 50 geworden bin, habe ich etwas Sinnvolles gesucht, wo ich mein Wissen einsetzen kann.» Also gründete er 2020 die Gruppe IG Knonaueramt als lokale Gruppe der Rehkitzrettung Schweiz. Zu sechst betreuen sie acht Jagdgebiete. An diesem Mittwoch begleitet ihn sein Kollege Chris Häfliger (49), er arbeitet in der Kunststofftechnologie.
Die Ausrüstung mit Drohnenkoffer und Monitoren haben sie gemeinsam gebaut. Im Team sind sie bis zum vergangenen Mittwoch an 30 Einsatztagen geflogen. «Das ist etwa die Hälfte im Vergleich zum letzten Jahr», so Christen. Dabei wurden viel weniger Kitze als letztes Jahr gerettet. «In unserer Region waren es 50, jetzt sind es erst 12.» Das sei dem unsteten, kalten und nassen Wetter geschuldet. «Für die Rehkitze hat das auch einen Vorteil, weil sie in Ruhe gelassen werden. Auf der anderen Seite ist dieses kalte Wetter gefährlich für die jungen Kitze, da sie kaltes und nasses Wetter nicht mögen und sich zu Tode erkälten können.»
Im 20-Minuten-Takt geht es von Feld zu Feld. Im Revier Mettmenstetten erwartet uns Jäger Peter Rütimann (68). Im Nullkommanichts ist die Drohne startklar, leise surrt sie über das eine Feld, dann kommt schon das nächste. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen durch die Tautropfen, während der Nebel noch träge in den Wiesentälern liegt. Für den Blick in die taufrische Landschaft bleibt nicht viel Zeit, aufmerksam beobachten der Jäger und die Piloten ihre Monitore.
Bambi will nicht gerettet werden
Erst auf dem Homberg, dem Feld Nummer vier im Tagesprogramm, kommt Bewegung in die Sache. Schon als wir die Autos parkieren, hüpft eine Rehgeiss in Richtung Wald. Dann glüht es auf den Monitoren. Hier liegen zwei Kitze, später entdecken wir noch zwei weitere. Jäger Rütimann zieht sich Handschuhe über, das ist wichtig. Denn wenn ein Kitz den Menschengeruch annimmt, wird es von der Mutter verstossen und ist seinen Fressfeinden ausgeliefert.
Der Jäger packt eine Holzkiste und bleibt über Funk mit dem Drohnenpiloten in Kontakt, denn: «Wenn das Gras so hoch ist, sind die Kitze fast nicht zu finden, auch wenn sie direkt vor der Nase sind», sagt Christen. Dann geht es schnell. Der Jäger hält das Kitz in seinen Händen. Chris Häfliger eilt mit der zweiten Holzkiste herbei, sie ist bereits mit Gras ausgelegt. Darin soll das Kitz gesichert werden, bis die Wiese gemäht ist.
Aber dieses Bambi will nicht gerettet werden – und schon gar nicht in einer Kiste! Das Tier fiept laut und verzweifelt nach seiner Mutter, es ist herzzerreissend. Die Rehgeiss patrouilliert nervös am Waldrand hin und her und beobachtet uns. Ist es mein Herz, das so laut klopft, oder das des Bambis? Seine grossen dunklen Augen blicken starr, dann strampelt es.
Der Jäger lässt es springen. «Es ist gross genug zum Fliehen, es hätte die Box weggekickt. Dann muss man es nicht umsonst plagen», erklärt Rütimann. «Das ist wie bei einem Kind. Wenn es selber gehen kann, muss man es loslassen.»
Es ist offensichtlich, dass ihm das Tier am Herzen liegt. «Das Fell war ganz nass», sagt er. «So geht die Isolation verloren, und dazu kommen die kalten Temperaturen. Das macht den Kleinen zu schaffen, viele bekommen eine Lungenentzündung. Auch wenn sie überleben, sind sie nie ganz gesund.»
Die Retter gehen auf Nummer sicher
Heute rettet er das Kitz, morgen schiesst er vielleicht einen Hirsch. Retten und Töten. Wie geht er mit diesem Clinch um? Rütimann antwortet ruhig: «Ich glaube, man hat da oft ein falsches Bild von Jägern. Wir schiessen nicht aus Freude am Töten. Ein grosser Teil unserer Arbeit ist der Schutz und Pflege. Wir tun alles für gesundes Wild, damit die Tiere ein gutes Leben haben. Beim Abschuss geht es um die Balance, wenn der Bestand zu hoch ist.» Dann spürt er das zweite Kitz auf, es hat sich tief im Geäst unter dem Raps versteckt – und verschwindet, bevor es der Jäger behändigen kann.
Nachdem wir die Tiere aufgeschreckt haben, ist es unwahrscheinlich, dass sie wieder ins Feld zurückgehen. «Die Rehgeiss platziert sie wohl woanders», vermutet Rütimann. Aber die Retter gehen auf Nummer sicher. Nach Absprache mit dem Jäger ruft der zweite Drohnenpilot Chris Häfliger den Bauern an und vereinbart mit ihm, dass er kurz vor dem Mähen nochmals übers Feld fliegt. «Das hier ist Teamwork, und der Kontakt zum Bauern läuft immer über den Jäger», erklärt er.
Ein Kitz und eine Katze
Als Häfliger vier Stunden später nochmals die Drohne über dem Feld steigen lässt, macht er nur noch das eine Kitz aus, das sich in der Frühe versteckt hat. Um ganz sicherzugehen, dass ihm nichts passiert, begleitet er die Mähmaschine während der ganzen Fahrt. Es hat sich drei Meter neben dem Grasfeld in den Raps geflüchtet. Und eine Katze hat es auch! «Es ist kein Tier zu Schaden gekommen. Das ist das Wichtigste», sagt Häfliger. Und der Bauer konnte mähen.
Aber wie haben das die Bauern vor den Drohnen gemacht? «Mit Absuchen und Verblenden, also dem Aufstellen von raschelnden Säcken im Feld», erklärt Christen. «Das ist aber viel zeitaufwendiger. Wofür die Drohne fünf Minuten braucht, haben Bauer und Jäger anderthalb Stunden.» Trotzdem wisse man so nie, ob noch ein Kitz drin ist. «Und die verschreckten Geissen wagen sich manchmal drei Tage lang nicht mehr ins Feld, um ihre Jungen zu säugen.»
Dank dem Einsatz der 670 freiwilligen Drohnenpiloten und -pilotinnen der Rehkitzrettung Schweiz konnten letztes Jahr in der Schweiz 6064 Rehkitze gerettet werden. Seit Beginn der Rettungsaktion im Jahr 2012 sind es 14'221.
Aber noch immer sterben zu viele von ihnen bei der Grasernte. Die offizielle Jagdstatistik des Bundes weist jährlich rund 1400 bis 1800 vermähte Rehkitze aus. «Eine Meldepflicht gegenüber Rehkitzrettung Schweiz gibt es nicht», sagt Christen. «Somit erfahren wir oft auch nicht davon.» Tierschutzorganisationen gehen von einer Dunkelziffer bis gegen 10'000 Rehkitze aus, die so jährlich leidvoll zu Tode kommen.
Aufregung für die Helfer – Stress für die Tiere
Für Christen und sein Team ist es die Motivation, um vier Uhr morgens auf den Beinen zu stehen. «Ich bin jedes Mal froh, wenn wir keine Rehkitze finden. Dann müssen wir sie auch nicht aufscheuchen.» Denn so herzig die Jungtiere anzusehen sind, das Sichern in der Box sei auch jedes Mal viel Aufregung für die Helfer – und vor allem Stress für die Tiere.
Das absolute Highlight für Christen kommt danach: das Freilassen der Kitze nach dem Mähen. «Sie sitzen mucksmäuschenstill in der Box. Wenn man sie öffnet, bleiben sie noch einen Moment still. Das ist ein ganz besonderer und intimer Augenblick. Bis sie bereit sind, dann stehen sie auf und rennen weg.» Wenn die Rehgeiss in der Nähe wartet, dann weiss Christen, dass im Team mit Bauer und Jäger die Mission erfüllt ist. «Natürlich ist das emotional», sagt er. «Zu wissen, dass diese Geschöpfe weiterleben. Da geht mir jedes Mal das Herz über.»
Infos: rehkitzretttung.ch