Psychotherapeutin Philippa Perry im Interview
«Wir sollten aufhören, immer gewinnen zu wollen»

Ihre Ideen, wie Eltern bessere Eltern werden, machten sie zum Star. Die britische Psychotherapeutin Philippa Perry (66) gibt jetzt auch Beziehungstipps. Unserer Autorin konnte Sie weiterhelfen – Ihnen hoffentlich auch.
Publiziert: 28.04.2024 um 10:06 Uhr
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Aktualisiert: 28.04.2024 um 10:13 Uhr
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Die britische Psychotherapeutin und Autorin Philippa Perry (66) spricht über ihr neustes Buch.
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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft

Sie trägt einen Pagenschnitt. Farbe: grau und schwarz. Ihre Brille ist auffällig. Sie sitzt in ihrem Townhouse in Clerkenwell, einst das Industrieviertel Londons, jetzt die Heimat der Kreativen. Die Wände sind voller Bilder, eine schwarz-weisse Katze streift durchs Videobild. «Ich ignoriere sie, sonst will sie spielen», sagt die 66-Jährige über den Vierbeiner. Perry ist die Kummerkastentante Englands, auf Englisch «agony aunt». So kommt man im Gespräch mit ihr auch in Versuchung ein, zwei Gratistipps zu bekommen.

Frau Perry, meine Grossmutter sagte immer: Du kannst die Leute nicht ändern. Entweder nimmst du sie, wie sie sind, oder du musst ohne sie sein. Wie sehen Sie das?
Philippa Perry:
Man kann andere nicht ändern, ausser man ist ein Psychopath. Wir können uns selbst ändern. Wenn wir unser Verhalten und unsere Reaktionen ändern, ändern sich andere Menschen als Reaktion auf uns. Aber es gibt keine Garantien.

Sich selbst ändern, ist aber so viel Arbeit.
Das ist Arbeit, ja. Aber etwas, was die meisten von uns ändern können: Wir sollten aufhören, immer gewinnen zu wollen. Wir haben schnell das Gefühl, dass wir uns verteidigen müssen, und greifen an. Stattdessen sollten wir ruhig bleiben und versuchen, das Gegenüber zu verstehen.

Haben Sie ein Beispiel?
Es liegt eine Schachtel Pralinen auf dem Tisch. Sie nehmen eine, ihre Schwester sagt: «Du hattest schon genug!» Sagen Sie nicht: «Nein, hatte ich nicht!» Auch wenn wir längst erwachsen sind, fangen wir gerne Streit an. Sitzen Sie es einfach aus und sagen Sie: «Du meinst, es hat zu wenig Schokolade für dich? Ich habe noch mehr!»

«Anstatt einfach zu reagieren, reflektieren Sie und antworten dann.»
Foto: Contour by Getty Images

Da muss man aber sehr selbstbewusst sein und alle Emotionen wegstecken.
Das braucht Übung. Wenn man merkt, dass einem die Emotionen überkommen, muss man sie gleich herunterfahren. Geben Sie sich einen Moment. Anstatt einfach zu reagieren, reflektieren Sie und antworten dann. 

Auch in Beziehungen reagieren wir oft emotional. Wenn man wegen der Arbeit, der Kinder, des Haushalts gestresst und gereizt ist, kommt es schnell wegen Lappalien zum Streit.
Wenn zwei Erwachsene eine stressige Zeit haben, können sie schrecklich zueinander sein. Sie halten das aus. Die Kinder nicht. Mein Rat: Solange man lieb zu den Kindern sind, kann man zum Partner sagen: «Wir werden eine Zeit lang schrecklich zueinander sein, weil wir so viel Stress haben. Aber wir tragen das nicht auf dem Rücken der Kinder aus.»

Okay, mit Ansage darf man fies sein?
Ja, aber man sollte fünf Minuten am Tag haben, in denen man sich nicht attackiert. Man kann aber schon auch üben, nachzudenken und zu antworten, anstatt zu reagieren. 

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«Wenn zwei Erwachsene eine stressige Zeit haben, können sie schrecklich zueinander sein.»
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Beispiel?
Wenn der Partner sich beklagt, wie viel Arbeit er hat und dass er den ganzen Tag auf das Baby geschaut hat, sagen Sie nicht: «Ich habe das die ganze letzte Woche getan!»

Sondern?
«Das ist hart. Ich habe noch zehn Minuten, und dann übernehme ich wieder die nächsten 24 Stunden.» Versuchen Sie, sich gegenseitig zu besänftigen, anstatt sich zu attackieren. 

Für viele ist das schwierig, wenn der Partner nervt. Es ist einem in dem Moment ja nicht nach Nettsein zumute.
Wenn wir aufhören, ständig gewinnen zu wollen, werden wir ein besseres Leben haben. Sagen Sie nicht, dass Sie diese Woche mehr Hausarbeit gemacht haben, sondern geben Sie dem Partner zu verstehen, dass es taff ist und Sie schauen, was Sie ändern können. 

«Man kann entweder verheiratet sein oder recht haben», schreibt Perry in ihrem aktuellen Buch über Beziehungen.

In Ihrem Buch schreiben Sie: «Man kann entweder verheiratet sein oder recht haben.»
Das stimmt. Ich würde das Rechthaben aufgeben. Ich habe es vor Jahren aufgegeben, glücklicherweise mein Mann auch. 

Das Rechthaben scheint ein grosses Thema in Beziehungen zu sein.
Ja. Ich habe jeden Sonntag eine Ratgeberkolumne im «Observer» (britische Sonntagszeitung), und das Thema kommt immer wieder. Die Leser schreiben: «Ich habe recht, die andere Person liegt falsch. Wie kann ich ihr zeigen, dass ich recht habe?» Was nützt es, recht zu haben? Die Leute denken, sie sterben, wenn sie flexibler werden. 

Die Kummerkastentante

1957 in Warrington, Nordengland, geboren, studierte Philippa Perry Kunst und machte eine Ausbildung als Psychotherapeutin. Sie arbeitete bereits als IT-Fachfrau, Gerichtsvollzieherin oder Managerin einer McDonald's-Filiale. Für die Sonntagszeitung «The Observer» schreibt sie eine Ratgeberkolumne.

2021 veröffentliche sie einen Ratgeber mit dem Titel «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)». Darin zeigt sie Eltern auf, dass das Wichtigste auf der Welt das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist.

Im vergangenen Herbst legte sie nach: Im Ratgeber «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Liebsten würden es lesen – und ein paar von den anderen auch» gibt sie Beziehungstipps.

Perry hat eine erwachsene Tochter und lebt mit ihrem Mann in London.

1957 in Warrington, Nordengland, geboren, studierte Philippa Perry Kunst und machte eine Ausbildung als Psychotherapeutin. Sie arbeitete bereits als IT-Fachfrau, Gerichtsvollzieherin oder Managerin einer McDonald's-Filiale. Für die Sonntagszeitung «The Observer» schreibt sie eine Ratgeberkolumne.

2021 veröffentliche sie einen Ratgeber mit dem Titel «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)». Darin zeigt sie Eltern auf, dass das Wichtigste auf der Welt das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist.

Im vergangenen Herbst legte sie nach: Im Ratgeber «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Liebsten würden es lesen – und ein paar von den anderen auch» gibt sie Beziehungstipps.

Perry hat eine erwachsene Tochter und lebt mit ihrem Mann in London.

Wie viele verzweifelte Menschen melden sich bei Ihnen?
Angefangen hat es mit vier, fünf Mails in der Woche. Jetzt bekomme ich vier- bis fünfhundert pro Woche. 

Wie alt war der jüngste Ratsuchende?
Neun Jahre alt.

Beeindruckend. Was hatte er auf dem Herzen?
Er konnte sich selbst nicht vergeben. Er war impulsiv und schlug einen Freund. Der Lehrer stoppte den Streit. Der Junge konnte nicht glauben, dass er seinen Freund gehauen hatte. 

«Jedes Mal, wenn wir einen Fehler machen, lernen wir ein bisschen mehr über uns selbst und wie wir das nächste Mal reagieren.»

Was rieten Sie ihm?
Ich versicherte ihm, dass wir von Kindern erwarten, Fehler zu machen. Deswegen hätten wir Lehrer auf dem Pausenhof, um Streit zu stoppen. Jedes Mal, wenn wir einen Fehler machen, lernen wir ein bisschen mehr über uns selbst und wie wir das nächste Mal reagieren. Ich fand ihn wirklich süss.

Das war bestimmt die Idee der Mutter.
Bestimmt. Weil ihr Sohn sich nicht vergeben konnte. Aber wissen Sie was, der andere Junge lud ihn gleich danach zu seiner Geburtstagsparty ein. Für ihn war es schon gegessen. 

Sie schreiben auch über Onlinedating, und zwar, dass viele sich nicht entscheiden, weil sie keinen Fehler machen wollen.
Ja, wir haben Angst, Fehler zu machen und dass wir darüber definiert werden. Aber das ganze Leben besteht aus Fehlern, Experimenten, Fehlern, Erfolg, Fehlern. Es ist mutig, eine Entscheidung zu treffen. Wenn wir die falsche Person heiraten, können wir uns scheiden lassen und das nächste Mal eine bessere heiraten. Ich bin in meiner zweiten Ehe. Und zwar schon über 35 Jahre.

«Tatsächlich ist die richtige Entscheidung die, zu der man steht», sagt Perry im Gespräch.
Foto: Dave Benett/Getty Images for National Portrait Gallery

Beim Onlinedating ist die Auswahl an potenziellen Partnern riesig. Viele haben Angst, etwas zu verpassen, wenn sie sich für jemanden entscheiden.
Das stimmt. Aber tatsächlich ist die richtige Entscheidung die, zu der man steht. Wenn man mit einem Bein ausserhalb der Beziehung steht, denkt man immer, es gibt noch einen Weg raus. So funktioniert es aber nicht. Eine Beziehung funktioniert nur, wenn man sich darauf einlässt. 

War es früher einfacher?
In alten Zeiten kannte man 100 Leute. Von diesen waren vielleicht 20 Singles. Davon hatten vier das richtige Alter. Zwei das passende Geschlecht. Von einer Person wurde man zurückgewiesen, also blieb noch eine. Voilà, dann musste man schauen, dass das passt.

Sie raten auch, während des Dates nicht ständig zu denken: Ist das jetzt der perfekte Match? Der passende Partner für die Zukunft?
Ja, haben Sie einfach Spass!

Viele Tinder-Dates fühlen sich an wie Vorstellungsgespräche. Jeder präsentiert die beste Seite von sich.
Schrecklich! Am besten geht man in den schlimmsten Klamotten und ohne Make-up zu Tinder-Dates. 

Ein weiterer Satz im Buch bleibt hängen: «Manche Leute meinen, Liebe passiert einfach, aber Liebe ist aktiv.» Können Sie das genauer erklären?
Die Menschen verwechseln Liebe mit erotischer Anziehung. Zweiteres ist, wenn man total Lust auf jemanden hat. Das ist Chemie, nicht Liebe. Liebe ist, wenn Ihr Mann sagt: «Du hast diese Woche die Kinder nie betreut.» Und Sie sagen: «Oh, du musst dich mit all dem so überfordert fühlen. Ich übernehme.» Liebe ist nett sein, wenn man sich nicht danach fühlt. Liebe ist, nicht recht haben zu wollen. Liebe ist, das Bett zu machen.

Ihre Titel sind umständlich, aber sie machen auch neugierig und funktionieren. Ihr erster Ratgeber machte Sie berühmt. Er wurde in 40 Sprachen übersetzt.

Ich möchte noch auf Ihr erstes Buch zu sprechen kommen. Da adressieren Sie Eltern. Es ist zugegeben der einzige Erziehungsratgeber, den ich gelesen habe. Ich war froh, ging es nicht ums Stillen und Töpfchen-Training.
Ah, das könnte ich gar nicht schreiben.

Auf jeden Fall, etwas hat mich total verärgert.
Schiessen Sie los.

Das Thema Schlafen ist für die meisten Eltern belastend. Kinder, die nicht durchschlafen, Kinder, die nicht einschlafen wollen. Sie raten, dass man neben dem Kind im Bett liegen soll, bis es einschläft. Das hält man doch kaum aus!
Warum? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie da liegen?

Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich denke: Mann, die Zeit könnte ich besser nutzen.
Als ich bei meiner Tochter liegen musste, merkte ich: Sie schlief schneller ein, wenn ich einfach nur dalag und es mich nicht kümmerte. Wenn Freunde zu Besuch waren und draussen in der Küche warteten, schlief sie nicht ein. Sie merkte meine Unruhe, mein ganzer Körper verriet es ihr. 

Je mehr man will, dass die Kinder schlafen, desto mehr turnen sie im Bett herum.
Wenn sich Kinder unsicher fühlen, wollen sie nicht einschlafen. Geben Sie Ihrem Kind das Gefühl, dass es sicher ist. Seien Sie in diesem Moment bei ihm und hören Sie auf, ständig darüber nachzudenken, was Sie alles noch zu tun haben. 

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«Das Kind ist ihre erste Priorität.»
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Danke für den Rat. Sie haben mich nicht nur verärgert, sondern mir auch geholfen. Thema Spielen. Ich spiele nicht wirklich gerne – und auch hier: Ich denke ständig, was ich noch alles tun müsste.
Das ist dasselbe wie beim Schlafen, die Kinder wollen unsere Aufmerksamkeit. Das Kind ist ihre erste Priorität. Machen Sie es so: Spielen Sie mit, bleiben Sie für eine Weile. Wenn es im Spiel ist, können Sie dann was anderes tun. Sagen Sie nicht: «Wenn ich mein Buch fertig gelesen habe, spiele ich mit dir.» Sie können einem Kind keine verspätete Belohnung erklären, sie verunsichern es nur. 

Wie gross ist eigentlich die Chance, dass Sie antworten, wenn man Sie um Rat fragt?
Wenn sie nicht wütend und gehässig mir gegenüber sind, ist die Chance eins zu zwei, dass man eine Antwort erhält. Aber bitte auf Englisch schreiben!

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